10 nach 8: Dilek Güngör über Deutschtürken

 
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16.10.2017
 
 
 
 
10 nach 8


Eigentlich bin ich ganz anders
 
Meine Bücher, Theaterstücke, Kolumnen handeln von meiner Identität als Deutsche mit türkischen Eltern. Plötzlich kann ich nicht mehr schreiben. Bin das wirklich ich?
VON DILEK GÜNGÖR

Eine türkische Familie verkauft Streetfood in Berlin-Kreuzberg. Es sind nicht nur das Essen und die Sprache, die unsere Persönlichkeit bestimmen. © Pawel Kopczynski/Reuters
 
Eine türkische Familie verkauft Streetfood in Berlin-Kreuzberg. Es sind nicht nur das Essen und die Sprache, die unsere Persönlichkeit bestimmen. © Pawel Kopczynski/Reuters
 
 

Vor wenigen Wochen bin ich mit meinem neuen Roman fertig geworden.
Alle, denen ich davon erzähle, fragen: Und, wovon handelt er?
Weiß ich nicht, würde ich am liebsten antworten, als hätte ich mich nicht fast ein Jahr lang Tag für Tag damit befasst. Es geht um das, worüber ich immer schreibe, sage ich, also Identität, Zugehörigkeit, Herkunft, das sind ja so meine Themen, weißt du.
Die anderen nicken, und ich versuche es wieder.
Also, meine Eltern kommen ja aus der Türkei, und …
Da endet dann mein Satz. Die Luft geht mir aus, so wie mir die Worte ausgehen. Die anderen nicken wieder. Ah, ein Problembuch, denken sie vielleicht, interessant, und fragen nicht weiter.

Warum habe ich gesagt, meine Eltern kommen aus der Türkei?

Vielleicht, weil ich, immer, wenn ein Text fertig geworden ist, nach Worten suche. Ich winde mich, weil das, was ich sage, nie das trifft, worüber ich geschrieben habe. Ich könnte mir ein paar Sätze bereitlegen, die neugierig machen, die anderen vermitteln, womit ich mich über Monate beschäftigt habe. Ich lege mir aber nichts bereit, weil ich mir auch beim Schreiben nichts bereitlege.

Ich kam ganz unbemerkt dazu, über das Übersetzen während des Studiums in Germersheim, dann über die Berliner Zeitung. Bei der Zeitung bekam ich eine Kolumne, weil jemand gesehen hatte, was ich nicht sah: dass ich schreiben konnte. Die Kolumnen schrieb ich über meinen Vater, und Woche für Woche zweifelte ich, ob man so eine Kolumne schrieb.

Irgendwann erschienen die Kolumnen als Buch und ehe ich mich versah, saß ich an meinem ersten Roman. Ich schrieb drei Seiten jeden Tag, eines Tages waren es hundert, und nun fragte ich mich, schreibt man so ein Buch? Ich schrieb über meinen Vater, über ihn und mich, über Zugehörigkeit und Identität, Muttersprache und Herkunft.

Ich schreibe, was kommt. Seitenweise füllen die Wörter meine Tagebücher, Notizbücher, Taschenkalender, ich bekritzele lose Zettel, den weißen Rand der Süddeutschen, die Rückseite meiner Rewe-Kassenzettel. Die Wörter finden mich von alleine, ich lese, aber ich recherchiere nicht. Ich suche keinen Stoff. Das schien mir die "wahrere" Form zu sein, echt, unkalkuliert, roh.

Bis jetzt.

Ich weiß nicht, was geschehen ist. Ich habe mir das Manuskript meines Buches ausgedruckt, 240 Seiten über das Anderssein, über Sehnsucht und Scham, über das Gefühl der Minderwertigkeit, über das Deutschsein, meinen Vater. Ich lese und schreibe hier und dort noch einmal neu. Doch jeden Tag ein bisschen weniger. Die Gedanken verblassen, die Ideen gehen mir aus, mein Schreiben stockt und stockt. Jetzt hat es ganz aufgehört. Es kommt nichts mehr.

Mein Manuskript liegt vor mir und fühlt sich so leblos an wie das Papier, auf dem es geschrieben ist.

Ich rede mit Freunden und sie raten mir, mich auszuruhen, die Leidenschaft kommt schon wieder, dir fällt doch immer was ein, genieß deine Freizeit, mach mal was anderes. Niemandem kann ich begreiflich machen, dass das keine Schreibblockade ist. Schon dass sie es dafür halten, bringt mich auf.

Ich habe mehr zu bieten als meine Andersartigkeit

I feel lost, schreibe ich meinem Freund Rajeev Balasubramanyam, einem britischen Autor, der seit vergangenem Sommer in meiner Nachbarschaft wohnt.

Ich habe mein Thema verloren, Rajeev. Ich habe genug, ich bin durch mit Identität. Vielleicht kann ich jetzt nie wieder etwas schreiben.

Rajeev sagt nicht, ich solle mir keine Sorgen machen und auch nicht, dass es so viel Interessantes gäbe, über das man schreiben könne. Er begreift auf Anhieb, worum es geht.
Man macht uns glauben, eine Identität hätten nur Leute wie du und ich, schreibt er mir. Sie machen uns glauben, das einzig Interessante an uns sei das, was uns von ihnen unterscheidet.

Ich frage ihn nicht, wen er mit sie und ihnen meint, wer das sei, der sich uns in den Weg stellt. Natürlich, es hat sie überall gegeben, Leute, die mich glauben machten, dass meine Haarfarbe, meine Muttersprache, mein Abendessen, meine Eltern das seien, was mich am stärksten geprägt habe. Mich zu dem machen, was ich bin. Nutze doch dein Potenzial, du bist die Einzige, die hier Türkisch kann, sagten sie in der Redaktion, und in der Schule null Fehler im Diktat und dabei ist Deutsch nicht einmal deine Muttersprache, davon könnt ihr euch alle eine Scheibe abschneiden. Wenn ich einmal nicht von meiner Herkunft, besser gesagt der Herkunft meiner Eltern sprechen wollte, fragte man mich, ob ich mich schämte, ob ich ein Problem damit hätte.

Rajeevs Antwort hat mich nicht deshalb umgehauen, weil ich jetzt weiß, wer schuld ist. Seine Antwort hat mich schlagartig aus der Orientierungslosigkeit geholt. Mir wurde klar, dass ich selbst glaube, ich hätte nichts anderes zu bieten als meine Andersartigkeit. Als bestünde ich nur daraus. Warum sonst erwähne ich ungefragt die Türkei, meine Zweisprachigkeit, das türkische Essen, das Dorf, in dem meine Eltern aufgewachsen sind? Ich mache es selbst zum Thema, mit und ohne Anlass, eine Überleitung findet sich immer. Fragt man mich nach meinem Namen, und fragt dann noch einmal, wie?, sage ich, das ist ein türkischer Name, statt ihn einfach zu wiederholen. Manchmal erzählte ich von der Türkei, als hätte ich dort wirklich einmal gelebt, als wäre ich erst vor zwei Jahren nach Berlin gekommen, als wisse ich irgendetwas über dieses Land. Die Überzeugung, dass das Türkische mein Wesen ausmacht, hat sich so tief in mein Denken gefressen, dass ich jetzt, da ich keinen Drang mehr spüre, über das Deutschsein und das Türkischsein zu schreiben, keine Erleichterung spüre, sondern Angst, plötzlich nichts mehr zu sein, nichts mehr zu sagen zu haben. 

Natürlich spielt das Türkische – wie soll ich es nennen, mein türkisches Ich, mein türkischer Teil, meine türkische Identität? – eine Rolle in meinem Leben. Aber nicht immer hat man mich dazu gedrängt. Oft habe ich es mir selbst ausgesucht, bei meiner Diplomarbeit, in meiner Zeitungskolumne, als Stoff für Romane, Drehbücher, für ein Opernlibretto, für Zeitungsartikel und Radiobeiträge. Es interessierte mich einfach, so sehr, dass ich glaubte, nur darüber könnte ich ehrlich und wahrhaftig schreiben.

Allmählich verschwindet das Gefühl der Verlorenheit. Emsig habe ich mich daran abgearbeitet, jetzt reicht es wohl und langsam dräut mir, das es doch noch mehr gibt in der Welt, das mich interessiert und geprägt hat. Die Begeisterung wird mich wieder überfallen, ich weiß noch nicht wie und wann und wo, aber das weiß ja keiner, der überfallen wird. Meine Verbundenheit zu allem Türkischen wird und soll mir bleiben, sie braucht nicht aus meinem Denken und Fühlen zu verschwinden. Aber sie muss auch nicht allem vorangehen.

Dilek Güngör, geboren 1972, arbeitete nach ihrem Übersetzerstudium bei der "Berliner Zeitung". Ihre gesammelten Kolumnen erschienen in den Bänden "Unter uns" und "Ganz schön deutsch". 2007 wurde ihr Roman "Das Geheimnis meiner türkischen Großmutter" veröffentlicht. Für das Singspiel "Türkisch für Liebhaber" an der Neuköllner Oper schrieb sie das Libretto. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".

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10 nach 8
 
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