Fünf vor 8:00: Jamaika muss Europa retten - Die Morgenkolumne heute von Martin Klingst

 
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FÜNF VOR 8:00
23.10.2017
 
 
 
   
 
Jamaika muss Europa retten
 
Ob Österreich, Ungarn, Tschechien oder Polen: Der europaweite Rechtsruck rüttelt am Fundament der EU. Der neuen Bundesregierung kommt daher entscheidende Bedeutung zu.
VON MARTIN KLINGST
 
   
 
 
   
 
   
Es steht schlecht um die Einheit der Europäischen Union. Katalonien will sich von Spanien trennen, auch in Norditalien streben Regionen nach Abspaltung und größerer Unabhängigkeit. Die Wahlen in Österreich und Tschechien – mit Erfolgen für europaskeptische Politiker – haben ebenso den Graben vertieft.
 
Siegreich waren vor allem Parteien, die mit fremdenfeindlichen Parolen Stimmung machen, die Brüssel abgrundtief misstrauen, die Europas Grenzen schließen und insbesondere den Islam und Muslime draußen halten wollen. Der immer schwieriger werdende Kampf um ein einheitliches, auf Freiheit und Menschenrechten fußendes Europa tritt in eine entscheidende Phase.
 
Mehr denn je kommt es dabei auf Paris, auf Den Haag, Stockholm, Kopenhagen, Brüssel an – und Berlin. Denn vor allem die nächste Bundesregierung, ein mögliches Jamaika-Bündnis, spielt eine entscheidende Rolle. Wird es ihr gelingen, eine Politik zu entwerfen, die über Deutschland hinausstrahlt? Die aufzeigen kann, wie sich angesichts großer sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Verwerfungen Rechtspopulismus und Zentrifugalkräfte stoppen lassen?
 
Nach den Wahlen in den Niederlanden, in Frankreich und in Deutschland hatte man gehofft, Phänomene à la Trump und Le Pen wären, wenn nicht besiegt, so doch zumindest auf dem Rückzug. Aber in Tschechien und in Österreich haben wieder einmal rechte Parteien und Kandidaten gesiegt, die nichts auf gemeinsame europäische Werte geben und dem Establishment in ihrem Land und in Brüssel den Kampf angesagt haben.
 
Populisten graben am Fundament der EU
 
Selbst wenn diese Erkenntnis für Österreich und die siegreiche Österreichische Volkspartei (ÖVP) nur eingeschränkt gilt: Auch der 31-jährige ÖVP-Kanzlerkandidat Sebastian Kurz zog als Anführer einer Bewegung in den Wahlkampf und ließ die konservative ÖVP in seinem Schatten bis zur Unkenntlichkeit verblassen.
 
Vor allem aber: Anders als der französische Präsident Emmanuel Macron, der ebenfalls mit einer Bewegung siegte, bot Kurz den äußerst Rechten nicht die Stirn; er bekämpfte sie, anders als Macron, auch nicht mit einem fulminanten Gegenprogramm. Stattdessen gab Kurz die nette, freundliche, wohlerzogene und sowohl im Stil als auch im Inhalt weich gewaschene Kopie der Rechtspopulisten.
 
Die Folge: Das Original, die äußerst rechte FPÖ, gewann ebenfalls, die ÖVP konnte sich nur knapp absetzen. Beide Parteien kommen zusammen auf 60 Prozent der Stimmen und werden wohl eine Koalition eingehen.
 
Fast zwei Drittel der Parlamentsmandate haben am Wochenende auch die Antisystemparteien (unter Einschluss der Kommunisten) in Tschechien gewonnen. Premierminister wird aller Voraussicht nach der Rechtspopulist Andrej Babiš, der mit seiner Protestpartei ANO – zu Deutsch etwa: Aktion unzufriedener Bürger – 30 Prozent der Stimmen holte. Mit einer satten absoluten Mehrheit herrschen bereits seit Längerem die Rechtspopulisten der PiS in Polen und der Fidesz in Ungarn.
 
Diktatur oder Demokratie?
 
Die EU ist ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, sie gründet auf der Europäischen Menschenrechtskonvention, so steht es in der Verfassung. Doch ein Bündnis rechter, nationalistischer Regierungen von Wien bis Warschau untergräbt dieses Fundament.
 
Soeben hat die unabhängige Menschenrechtsorganisation Amnesty International der polnischen Regierung und der sie dominierenden PiS-Partei ein verheerendes Zeugnis ausgestellt: Die Unabhängigkeit der Justiz wird ausgehöhlt, staatliche Medien werden gleichgeschaltet, friedliche Demonstranten überwacht, verhaftet, verhört. Derart erschütternde Berichte kennt man eigentlich nur aus Diktaturen, nicht aber aus einer Demokratie.
 
Der tschechische Donald Trump
 
Um Ungarn steht es nicht besser, und auch Tschechiens politische Zukunft verheißt nichts Gutes: Wahlsieger Babiš ist zwar kein strammer Ideologe wie etwa der polnische PiS-Chef Jarosław Kaczyński oder der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán. Babiš hat eher Gemeinsamkeiten mit Donald Trump.
 
Babiš hasst kritische Medien
 
Der Milliardär, des Steuerbetrugs verdächtig, zeigt sich, wenn es seinem Ego und den eigenen wirtschaftlichen Interessen dient, durchaus wetterwendisch. Er ist darum nicht grundsätzlich gegen die EU und will nach eigenem Bekunden Tschechien wie ein Unternehmen führen. Doch wie Trump hasst auch Babiš kritische Medien; er hält nicht viel von demokratischen, die Macht begrenzenden Institutionen und sieht sich als Verteidiger des christlichen Abendlandes gegen muslimische Einwanderer.
 
Es ist ziemlich absurd, dass ausgerechnet Staaten wie Tschechien, Polen oder Ungarn, wo so gut wie keine Muslime leben, Front gegen islamische Flüchtlinge machen und keinen Einzigen von ihnen aufnehmen wollen.
 
Dieser inneren Zersetzung der EU können andere Mitglieder nur mit gutem Beispiel entgegenwirken. Entscheidend wird es dabei auf die Politik der nächsten Bundesregierung ankommen.
 
Europa braucht ein überzeugendes Flüchtlingskonzept
 
Zum Beispiel darauf, dass ihr – in enger Abstimmung mit Brüssel – ein überzeugendes Konzept für Flüchtlinge und Einwanderer gelingt. Ein Plan also, der einerseits Flüchtlingen humanitären Schutz gewährt und einer jährlich festgelegten Anzahl von Arbeitsmigranten eine Zukunft in Deutschland bietet.
 
Der aber andererseits sicherstellt, dass sich der Flüchtlingssommer 2015 nicht wiederholt: etwa mithilfe eines großzügigen, dauerhaften Unterstützungsprogramms für afrikanische Staaten; mit einer besseren Sicherung europäischer Außengrenzen; mit einem in Europa einheitlichen Anerkennungssystem für Flüchtlinge und Asylbewerber; und mit einer raschen Rückführung all jener Menschen in ihre Heimat, die keinen Anspruch auf Schutz oder Arbeitsaufnahme in Deutschland haben.
 
Zeigen muss die Bundesregierung im Konzert mit Frankreich und anderen europäischen Staaten außerdem, dass sie die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen anpackt. Dass es gelingen kann, den digitalen Wandel zu fördern und zugleich die Abgehängten fortzubilden und aufzufangen.
 
Deutschland und Frankreich müssen als bevölkerungsreichste Staaten in der EU ebenfalls Vorsorge dafür treffen, dass die Wohlstandsschere nicht immer weiter auseinandergeht. Dass Bürger von ihrer Arbeit sowohl jetzt als auch im Ruhestand angemessen leben können.
 
Wenn das gelingt, werden die Rechtspopulisten in Europa an Rückhalt verlieren. Dann haben die EU-Staaten eine gute Chance auf eine gemeinsame Zukunft.
 
   
 
   
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Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.