10 nach 8: Christiane Kühl über Estland

 
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20.10.2017
 
 
 
 
10 nach 8


Willkommen in E-Land
 
Im Nordosten Europas kann jeder Mensch eine E-Bürgerschaft beantragen. Briten freut das. Die Esten führen ihr Land wie ein Start-up. Wollen sie die Demokratie abschaffen?
VON CHRISTIANE KÜHL

In keinem europäischen Land kommen so viele Start-ups auf einen Einwohner wie in Estland. TransferWise in Tallinn, hier im Bild, ist eines der erfolgreichsten. © Toomas Volmer/TransferWise/dpa
 
In keinem europäischen Land kommen so viele Start-ups auf einen Einwohner wie in Estland. TransferWise in Tallinn, hier im Bild, ist eines der erfolgreichsten. © Toomas Volmer/TransferWise/dpa
 
 

In ganz Europa erstarkt der Nationalismus. Grenzen werden geschlossen, Leitkulturen beschworen, Das-Boot-ist-voll-Rhetorik dominiert. In ganz Europa? Nein, ein kleines Land im äußersten Nordosten versucht das Gegenteil: Estland, mit 1,3 Millionen Einwohnern das viertkleinste Mitglied der Europäischen Union, will bis 2025 auf zehn Millionen Einwohner wachsen. Mit großen Internetkampagnen wird um Neubürger aus aller Welt geworben, Religion, Ethnie, Alter, Geschlecht egal. Was für eine schöne Utopie, im buchstäblichen Sinne des Wortes. Der Clou an dieser historisch einmaligen Anwerbeaktion ist nämlich, dass die estnischen Neubürger aus aller Welt dabei in aller Welt bleiben. Ihre neue Heimat können sie nur digital bewohnen. E-Residency nennt die estnische Regierung das Programm. Sie versteht sich damit als Avantgarde internationaler Staatspolitik im 21. Jahrhundert. Und trifft vermutlich den Nagel auf den Kopf: Welcome business, not bodies.
 
Es gab viele Spekulationen darüber, wie die Digitalisierung das Konzept der Nationalstaaten verändern würde. Die hübscheste war jene, die davon ausging, dass der grenzenlose Raum des Netzes seine Schrankenlosigkeit auf die physische Welt übertragen würde. "Regierungen der industriellen Welt, ihr müden Riesen aus Fleisch und Stahl", begann John Perry Barlow seine berühmte Declaration of the Independence of the Cyberspace 1996: "Als Vertreter der Zukunft bitte ich euch aus der Vergangenheit, uns in Ruhe zu lassen. (...) Ihr habt keine Souveränität, wo wir uns versammeln. (...) Ich erkläre den globalen sozialen Raum, den wir errichten, als gänzlich unabhängig von der Tyrannei, die ihr über uns auszuüben anstrebt."

Ein neuer Typ gutartiger Disruption

Erlebt haben wir bislang anderes. Statt dass das Netz das Konzept der Nationalstaaten überflüssig machte, versuchen Staaten nun, das Internet zu nationalisieren. User in China sehen beispielsweise andere Inhalte als die in den USA, und das ist nicht technisch bedingt, sondern staatliche Zensur. Parallel zu derartigen Reglementierungen werden einzelne IT-Companies reich und mächtig wie Staaten. Facebook ist mit zwei Milliarden aktiven Nutzern quasi die größte Nation der Welt; der Umsatz mit Apple-iPhones übertraf im Januar das Bruttosozialprodukt der Schweiz. Seit einiger Zeit lässt sich außerdem beobachten, wie Konzerne der Industrie 4.0 in der physischen Welt Aufgaben übernehmen, die klassischerweise vom Gemeinwesen geleistet werden. So baut Airbnb in Japan Gemeindezentren, Google modernisiert in den USA die Verkehrsinfrastruktur. Die im täglichen Online-Kerngeschäft abgeschöpften Bürgerdaten erlauben ihnen, das effizienter zu leisten, als es die meisten Gemeinden könnten – mit dem Vorteil, gleichzeitig noch mehr wertvolle Daten abschöpfen zu können, die wiederum Wissensvorsprung und Kontrolle bedeuten. Wenn aber IT-Firmen die Rolle von Staaten übernehmen, sollten Staaten sich dann nicht umgekehrt an den erfolgreichen Geschäftspraktiken der IT-Firmen orientieren? 

Die estnische Antwort lautet eindeutig ja. CAAS, Country As A Service, heißt das Konzept, mit dem Estland sich als Plattform anpreist und seine Bürger wie auch e-Bürger unverhohlen als Kunden anspricht. "We run this country like a start-up", heißt es auf einer offiziellen Website der Regierung. Wobei "Regierung" ein weiteres Konzept ist, das es nach Meinung der Esten komplett zu erneuern gilt. "Das digitale Zeitalter verändert die Welt, Sektor um Sektor", schreibt Taavi Kotka, bis 2016 Chief Information Officer (CIO) des Landes mit Bezug auf Uber, Skype und Airbnb. Nun gehe es im Norden weiter mit einem "völlig neuen Typ gutartiger Disruption – und diesmal heißt die Kategorie Regierung". Dass Kotka mit "Disruption" das Lieblingswort des Silicon Valley wählt, ist natürlich kein Zufall. Ebenso wie die estnische Erfindung Skype das globale Telefongeschäft revolutioniert hat, soll e-Government das klassische Regierungsgeschäft ablösen. Klassische Regierungen sind nämlich weder effizient noch user friendly. Country As A Service macht dagegen den Kunden zum König. Je nach Bedarf und Präferenz soll der globale Bürger künftig seinen Staat "so einfach wie seinen Mobilfunkanbieter wechseln" können. Immer schön virtuell, versteht sich. Wären die Esten nicht so wahnsinnig sympathische Menschen, man würde denken, sie wollten die Demokratie abschaffen.

Für Briten eine Tür in die EU

In Estland sieht man das selbstredend anders. Nach einer Jahrhunderte währenden Unterdrückung des Volkes durch Russen und Deutsche steht die Neuerfindung der Nation als benutzerfreundliches Dienstleistungsunternehmen am Anfang der erfolgreichen Selbstbestimmung des kleinen Landes. Der Staat begreift sich als digital by default: 99 Prozent aller staatlichen Services sind online, 900 Institutionen samt Datenbanken vernetzt, jeder Este hat eine e-ID, es gibt e-Health-Care, e-Schools und es wird online gewählt. Internetzugang ist in Estland ein verbrieftes "soziales Recht", in allen öffentlichen Gebäuden und an vielen Landbushaltestellen gratis. Tatsächlich gibt es in keinem europäischen Land pro Kopf so viele Start-ups wie hier, und Firmen wie Skype und TransferWise haben dem Land seit der Unabhängigkeit 1991 durchaus bescheidenen Reichtum gebracht. Mit e-Residents ließe sich dieser exponentiell steigern.

Beantragt wird die e-Residency völlig unkompliziert online. Etwa acht Wochen später kann der erfolgreiche Antragsteller seine e-ID-Karte samt Lesegerät auf der estnischen Botschaft seines Heimatlands abholen. Mit dieser elektronischen Ausweiskarte besteht die Möglichkeit, ein baltisches Bankkonto zu eröffnen, alle estnischen e-Services zu nutzen sowie sich sicher und vertragstauglich in der digitalen Sphäre auszuweisen. Wahrgenommen haben die Offerte aktuell etwa 24.800 Menschen aus 143 Ländern. Von den anvisierten 10 Millionen ist man entsprechend weit entfernt, doch die Zahl steigt rasant. Im August verkündete Kaspar Korjus, der 29-jährige Leiter des Programms, stolz, dass die wöchentlichen Antragstellungen für e-Residencies die wöchentliche Geburtenrate des Landes übertreffen. Schon 2016 trugen 1.000 neue e-Firmen drei Millionen Euro zur estnischen Wirtschaftsleistung bei. Mittlerweile hat sich die Zahl vervierfacht. Zehn Millionen Firmen könnten entsprechend 30 Billionen beitragen – 150 Prozent des aktuellen Bruttoinlandsprodukts. "Help us to build together a new global nation for all our global citizens!", ruft Korjus den "dear e-residents" im Editorial des englischsprachigen Magazins Life in Estonia euphorisch zu. Den Briten musste er das nicht sagen; seit der Brexit-Ankündigung nutzen viele Insulaner diese legale digitale Tür in den EU-Raum. Die Zahl der seit 2015 leibhaftig in Estland aufgenommenen Migranten beträgt 107. Die meisten Esten sagen, das liege am Klima, es sei den Syrern im Norden einfach zu kalt.

Seit dem 1. Juli hat Estland, das sich offensiv als e-Estonia vermarktet, die EU-Ratspräsidentschaft inne. Selbst ernanntes Ziel ist es, Europa zu e-Europa zu machen. Die FDP wird das Anliegen getreu ihres erstaunlich ignoranten Wahlslogans "Digitalisierung first, Bedenken second" mit Sicherheit in Brüssel unterstützen – schließlich geht es um Grenzöffnung explizit für Geschäftstüchtige. Auch mit den UN hat Estland im Frühjahr eine Kooperation bekannt gegeben. E-Trade For All soll über die estnische digitale Plattform dafür sorgen, dass jeder Mensch, egal wo er lebt, eine Möglichkeit auf globale finanzielle Teilhabe bekommt. Das ist wichtig, Zugang zu den globalen Märkten auch für die Peripherie nur fair. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass der Mensch – nennen wir ihn den klassischen Menschen aus Fleisch und Blut – jenseits seiner Kapitalisierung in diesen Konzepten keinen Platz hat.
 

Christiane Kühl lebt als Journalistin und Theatermacherin in Berlin. Im Frühjahr erarbeitete sie ein Stück über die Digitalisierung von Staat und Gesellschaft am Theater Vaba Lava in Tallinn. Mit dem Steirischen Herbst ist sie Herausgeberin des Buchs "Where are we now? Positionen zum Hier und Jetzt" mit Beiträgen von 50 Kunst- und Theorieschaffenden, das soeben im The-Green-Box-Verlag erschien. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".

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10 nach 8
 
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