Die heiß umstrittene "Obergrenze" für Flüchtlinge und Migranten wird einer Jamaika-Koalition nicht mehr im Wege stehen. CDU und CSU haben am vorvergangenen Sonntag einen
Kompromiss gefunden, mit dem offenbar auch
die Grünen leben können.
Das schwierige Flüchtlingsthema ist damit jedoch nicht vom Tisch. Zum Zankapfel droht jetzt der
Familiennachzug zu werden. Alle Jamaika-Parteien, Union sowie FDP und Grüne, erwarten äußerst komplizierte und streitige Verhandlungen.
Nach dem Gesetz haben Asylberechtigte und anerkannte Flüchtlinge einen Anspruch auf Zusammenführung mit ihrer sogenannten Kernfamilie. Dazu zählen Ehepartner und minderjährige Kinder, aber ebenso die Eltern von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen.
Aus Angst, es könnten zu viele Verwandte nachziehen, gingen
die deutschen Behörden im Frühjahr 2016 dazu über, Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien und dem Irak nicht mehr Asyl oder volle Protektion nach der Genfer Flüchtlingskonvention zu gewähren, sondern nur noch den sogenannten subsidiären Schutz. Dieser wird zeitlich beschränkt erteilt, zunächst meist nur für ein bis zwei Jahre, und er lässt sich auch sonst leichter begrenzen. Etwa mit einer Nachzugssperre für Angehörige.
Die Gruppe der subsidiär Geschützten ist inzwischen ziemlich groß und umfasst mindestens 250.000 Geflohene, die meisten von ihnen Syrer. Im März 2018 läuft die Nachzugssperre aus, einige Flüchtlinge möchten darum ihre Kinder oder Eltern möglichst bald nachholen. Die nächste Bundesregierung wird also schnell entscheiden müssen, wie es weitergehen soll.
Die Zusammenführung einer Familie, sollte man meinen, wäre ein Herzensanliegen der christlichen Unionsparteien. Betonen doch gerade sie den besonderen Wert der Familie als Keimzelle der Gesellschaft. Doch in puncto Flüchtlinge gilt dieses Credo offenkundig nicht: CSU und große Teile der CDU möchten die Nachzugssperre fortsetzen. Die FDP will sie nur geringfügig mildern. Lediglich die Grünen
wollen sie sofort aufheben.
Niemand kann wirklich verlässlich sagen, wie viele zusätzliche Menschen auf dem Wege des Familiennachzugs nach Deutschland kommen würden. Nur eines ist klar: Die Zahlen, mit denen einige Parteien noch im Wahlkampf um sich warfen, waren aus der Luft gegriffen und unseriös.
Anfangs wurde behauptet, es würden pro Flüchtling mindestens drei Familienangehörige nachziehen. Die AfD warnte bereits vor zwei Millionen zusätzlichen Syrern. Die Spitzenkandidatin der Rechtspopulisten, Alice Weidel, sagte für 2018 "das schwärzeste Jahr in der deutschen Asylkrise" voraus.
Die Bild-Zeitung prophezeite unter Berufung auf angebliche Regierungsinformationen mindestens 390.000 neue Flüchtlinge, selbst Bundesinnenminister Thomas de Maizière sprach von einer "gewaltigen Zahl".
Gerechnet wird nun mit Zehntausenden statt Hunderttausenden Die Schätzungen von Experten sowie des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) hingegen fielen deutlich niedriger aus. Sie werden jetzt unterstützt durch die bisherigen Erfahrungen mit der Familienzusammenführung. Gerechnet wird mit Zehntausenden, nicht Hunderttausenden.
Gleichwohl: Die Entscheidung der Bundesregierung, 2016 den Nachzug auszusetzen, war nachvollziehbar. Fast eine Million Flüchtlinge suchten damals in Deutschland Zuflucht. Niemand konnte abschätzen, wie viele weitere Menschen sich auf den Weg machen würden und am Ende auch ihre Familien nach Deutschland bringen wollten.
Doch heute, zwei Jahre später, kommen vergleichsweise nur wenige neue Asylbewerber und Flüchtlinge. Not herrscht nun hierzulande aus einem anderen Grund: Zu viele Geflohene
warten verzweifelt auf ihre Familien. Das hat zum Teil schlimme Folgen.
Anstatt Deutsch zu lernen, zur Schule zu gehen, eine Ausbildung zu ergreifen, verdingen sich zum Beispiel einige junge Männer auf dem Schwarzmarkt. Manche arbeiten nachts illegal auf dem Bau, einige dealen mit Drogen, andere prostituieren sich, um mit dem verdienten Geld ihre Partner, Eltern oder Kinder zu unterstützen, die in Syrien oder irgendwo auf dem Weg nach Europa ausharren müssen.
Diese Flüchtlinge haben schreckliche Angst um ihre Angehörigen. Die Sorge lähmt sie, sie bindet ihre Energien und erschwert ihr Ankommen in Deutschland.
Die einfachen Gesetze, die deutsche Verfassung und die Europäische Menschenrechtskonvention verteidigen die Familie als ein hohes Gut. Ob sich daraus allerdings selbst für nur subsidiär geschützte Flüchtlinge ein Recht auf Familienzusammenführung herleiten lässt, ist fraglich. Einige Juristen behaupten das und haben bereits deutsche und europäische Gerichte angerufen.
Aber jenseits des Rechts sagt schon der allgemeine Menschenverstand, dass gerade die Familie entwurzelten Menschen Rückhalt und Stabilität bietet. Wer also ein Abgleiten der Flüchtlinge in Hoffnungslosigkeit, in Depression oder Kriminalität verhindern will, sollte Familien nicht trennen, sondern so schnell wie möglich in Deutschland zusammenbringen.