Schlimm – aber sexy! Weinstein und kein Ende. Drei Verlierer gibt es bereits jetzt: das Kino, die Frauen und der gesellschaftliche Fortschritt. Fragt sich endlich mal jemand, was zu tun ist? VON HEIKE-MELBA FENDEL |
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| | Chad Everett und Naomi Watts in der Castingszene aus "Mulholland Drive" © Concorde Verleih |
In Mulholland Drive spielte die damals weitgehend unbekannte Naomi Watts 2001 eine hoffnungsvolle Schauspielerin namens Betty. Sie war nach Hollywood gekommen, um ein Star zu werden. Etwa in der Mitte von David Lynchs kunstvoll glamourösem Kinorätsel wird die naive Blondine zu ihrem ersten, heiß ersehnten Casting geladen. In einem schäbigen Raum vor einer Handvoll abgehalfterter Profis verwandelt sie sich in ein junges Mädchen, das vorgibt, sich den Avancen eines ältlichen Lüstlings hinzugeben. Ihre Worte sagen nein, ihr Körper sagt ja – den Dolch, mit dem sie ihn töten wird, hält sie dabei fest umklammert …
Suspension of disbelief, also die Bereitschaft, sich für eine Filmlänge auf sorgsam inszenierte Täuschungsangebote einzulassen, um unterhalten oder inspiriert zu werden, ist die Grundlage der Beziehung zwischen Film und Zuschauer. Wie belastbar dieser Pakt mit der Fiktion ist, zeigt Lynch in seiner Castingszene. Und obwohl er Konstruktion und Künstlichkeit fortlaufend thematisiert, triumphiert die Schauspielkunst. Weil Watts so gut ist, glauben wir ihr. Ja, sie begehrt diesen Mann, sie will mit ihm schlafen und wir spüren, ja, wir teilen diese Erregung, bis sie, und wir mit ihr, einen Schritt zurücktritt und sagt "I hate you. I hate us both."
Es ist viel von Hollywood und wenig vom Kino die Rede in diesen Wochen weltweiter Empörung über einen feisten, mächtigen, alten Sack, der sich wieder und wieder der Körper zarter, pastellen gekleideter Frauen bemächtigt hat. Von einer Wahrheit, die jetzt – endlich – ans Licht gekommen sei, der Wahrheit über Macht und ihren Missbrauch, über Abhängigkeit, Schweigekartelle und das Ausgeliefertsein der Frauen. Wie jedoch bemisst sich der Wert der Wahrheit an einem Ort, der sich der Fiktion verpflichtet hat, bevölkert von Menschen, die fest vorhaben, diese Fiktion zu ihren Gunsten zu wenden?
Wie die dem Goldrausch verfallenen Siedler des frühen 19. Jahrhunderts, denen sie ihren Spitznamen verdanken, strömten nach Ende des ersten Weltkrieges auch zahllose junge bis sehr junge Frauen an die amerikanische Westküste, um in der boomenden Filmindustrie ihr Glück zu machen. Neben den Flapper- und den It-Girls wurden die "Gold Digger" zum Synonym dieser nach Spaß, Sichtbarkeit und Geld strebenden Frauen. Ob ein Genie wie die Schauspielerin, Regisseurin und Produzentin Asta Nielsen oder das begriffsprägende It-Girl Clara Bow, beide Superstars der Zwanzigerjahre, eines war von Anfang an klar: Logik oder gar Gerechtigkeit kommen bei dem Lotteriespiel Ruhm selten zum Zuge.
Harte Droge Ruhm
Das Faszinosum Hollywood deckt sich seit jeher mit dem des Glücksspiels. Je unwahrscheinlicher das Erreichen des erstrebten Ziels, desto höher der Einsatz für das Erreichen magischer Momente: Momente, in denen Zufall, Begabung und harte Arbeit auf den richtigen Stoff und den richtigen Regisseur stoßen. Wo eine Darstellung, eine Inszenierung ins Mark des Publikums treffen. Und das Publikum, dieses amorphe, launische Etwas, dankt es mit Applaus und Verehrung, aus der die hart und schnell wirkende Droge Ruhm kondensiert. Jene Selbstauflösung in der massenhaften Wahrnehmung Anderer, die die britische Schriftstellerin Julie Burchill einmal als das "prestigeträchtigste Beruhigungsmittel", das sie kenne, beschrieben hat.
An der Mentalität der jungen Frauen, die seit mehr als 100 Jahren bereit sind, einen entscheidenden Rohstoff für die Traumfabrik zu verkörpern, hat sich wenig verändert. Wie Tänzer, Models und Leistungssportler wissen sie um das schmale Zeitfenster, das ihnen bleibt, um es in die Sphäre des Ruhmes zu schaffen. Und wie diese wissen sie um den Körpereinsatz, den das nicht selten erfordert. Ein Körper, den man den Anforderungen der Rolle, des aktuellen Schönheitsideals oder eben immer wieder auch denen jener Männer unterwirft, die eindeutige Anforderungen stellen. Denn, wie es eine Schauspielerin off record achselzuckend formulierte: "Ich hatte so oft in meinem Leben schlechten Sex, von dem ich nichts hatte. Warum also sollte ich nicht auch mal davon profitieren?"
Hollywood kennt seine eigenen Abgründe
Nun, vielleicht weil es einen Verfügbarkeitsmaßstab setzt, den längst nicht alle hoffnungsvollen jungen Künstlerinnen teilen. Auch davon weiß das Kino zu erzählen: Irene Cara verkörpert in Fame, Alan Parkers Film über eine Gruppe Jugendlicher in Manhattan, die als Sänger, Tänzer und Schauspieler groß rauskommen wollen, die Figur der Coco. Coco wird während eines Dinners von einem Mann angesprochen und zum Screen Test für einen französischen Kunstfilm eingeladen. In einer Absteige am Times Square nötigt der selbst ernannte Regisseur sie, sich vor laufender Super-8-Kamera zu entblößen und den Daumen in den Mund zu nehmen. Sie gehorcht und wir sehen das weinende, schutzlose Mädchen, das einen bitteren Preis für seinen Traum vom Ruhm zahlt.
Anders als Naomi Watts hat Irene Cara aus einer emblematischen Rolle keine langlebige Karriere schmieden können. Aber bereits diese zwei eher willkürlich herausgegriffenen Casting-Szenen zeigen, dass das Kino so viel mehr über die eigenen Abgründe und die seiner Protagonisten zu erzählen in der Lage war und ist, als eine sich nur pro forma entrüstende, unverhohlen promigeile Medienwelt.
Abstoßendes Verhalten von Journalisten
Wo etwa Lynch die Schauspielkunst ausstellt und feiert oder Parker echtes Mitgefühl für die Folgen der Machenschaften notgeiler Profiteure auszulösen in der Lage ist, verhebt sich hierzulande die Berichterstattung zu Weinstein. Besoffen vom Quoten- und Auflagencocktail, gemixt aus je einem Drittel Sex, Voyeurismus und Betroffenheit, garniert mit einem Schuss Spekulation, strecken und verlängern viele Medien den Skandal gemäß dem Motto: schlimm, aber sexy. Dass Bild.de den Skandal unter dem Menüpunkt Unterhaltung/Stars ablegt, verwundert nicht. Die Penetranz, mit der die Redakteure und Reporter nahezu aller Publikationen Schauspielerinnen und deren Agenturen animieren bis drangsalieren, nun doch auch einmal Ross (Opfer) und Reiter (Täter) zu nennen, ist nicht nur befremdlich, sondern abstoßend.
Das gilt auch für die visuelle Aufbereitung. Geben sich etliche Texte bemüht nachdenklich, differenziert und einfühlsam, so spricht die Bildauswahl eine andere Sprache: Besonders beliebt ist die Opferkachel, bei der Porträts von betroffenen Hollywoodstars nebeneinander gestellt werden – eine Bildanordnung, die man von Flugzeugabstürzen oder Dating-Apps kennt. Ebenfalls häufig genommen: Partybilder von leicht bekleideten, prominenten Kindfrauen in innigem Kontakt mit dem bulligen Weinstein.
Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung illustrierte die Geschichte von Asia Argentos Vergewaltigungsvorwürfen an Weinstein mit schummrig unscharfen Screenshots einer Vergewaltigungssequenz aus dem von ihr inszenierten Film Scarlet Diva. Damit man sich das alles Mal etwas bildlicher vorstellen kann. Die Enthemmung der medialen Treibjagd auf den mutmaßlichen Täter hingegen findet mit dem aktuellen Cover des Branchenblatts Hollywood Reporter, das der Bildsprache des Stürmers in nichts nachsteht, seinen traurigen Höhepunkt.
In einer eigentümlichen Verkehrung des Berufsbildes verwandelt sich derzeit Journalismus in den von ihm beschriebenen Gegenstand. Allerdings ist es schlechtes Kino, das die Medien aus ihrer Berichterstattung über die vermeintliche Traumfabrik machen, weil sie kein Genre wirklich ernst nehmen, das sie inszenieren: weder Drama, noch Satire noch Schundfilm. Und dem Cast werden nur zwei Rollenoptionen geboten: Büßer oder Betroffene.
Tautologie triumphiert über Empathie
Zu blöd für die unablässig nachfassenden Medienvertreter, dass in Deutschland niemand aus der Deckung kommen will. Denn auch bei uns schlägt die Stunde der PR-Strategen. Anders als die Spin-Doktoren in den USA, die ihren Klienten wahlweise Fassungslosigkeit ("Ich hätte nie gedacht, dass ...") oder Reue ("Ich schäme mich, dass ich nicht früher ..."), immer aber Abscheu über das Verhalten ihres einstigen best buddy Weinstein in die Tweets und Redemanuskripte schreiben, rät man hierzulande zur Diskretion. Natürlich, hier wie dort, allein zum Wohl des Klienten.
Wer gut im Geschäft ist, soll nicht als Nestbeschmutzerin gelten. Wer nicht mehr gut im Geschäft ist, soll nicht als Schlagzeilenschinderin rüberkommen. Weil es der Branche natürlich genauso wenig um "die Sache" geht wie den Medien und all jenen, die bereit sind, sich an den visuell so appetitlich aufbereiteten Unappetitlichkeiten zu delektieren.
Wie aber steht es für Feministinnen und Feministen, die endlich ein Momentum im zähen Kampf um faire oder quotierte Teilhabe von Frauen an der Bilderproduktion, den Machtgefügen und der Sichtbarkeit insgesamt spüren? Für sie könnte der Fall Weinstein, vor allem aber das damit verbundene, nicht enden wollende Medienspektakel ein blessing in disguise werden: endlich Öffentlichkeit, endlich Sichtbarkeit, endlich eine kritische Masse für eine unumkehrbare Bewusstseinsschärfung und Veränderung, so die Hoffnung.
Was wir alle tun könnten
Das wäre zu wünschen, doch es darf bezweifelt werden. Auf jeden Superlativ folgen Ermattung und Relativierung. Die Prominenz etlicher Weinstein-Opfer und -Kommentatoren ist ein ebenso krasser Superlativ wie die stetig anschwellenden Testimonialzahlen von #metoo. Das Thema ist ein Thema, weil es ein Thema ist. Tautologie triumphiert über Empathie.
Erst recht – Achtung, jetzt wird es richtig unsexy – wenn es um Menschen außerhalb des medial als relevant erachteten Spektrums geht. Ein Flüchtlingslager als Ort strukturellen Missbrauchs etwa ist schließlich ungleich unglamouröser als ein Filmstudio. So gut wie niemand all derer, die recherchieren, kommentieren und eigene Süppchen kochen – ob Mann oder Frau, ob Medium oder Institution – nimmt sich der Komplexitäten einer Missbrauchsanbahnung und schon gar nicht der Endlosigkeit seiner Folgen an. Niemand spricht von oder gar mit den Menschen in den Beratungsstellen von Zartbitter, Wildwasser, Lara, Dunkelziffer und all den anderen Einrichtungen, die das Unheilbare zu puffern versuchen und fragt nach, was sie so denken, vor allem aber, was sie brauchen könnten: an Öffentlichkeit, an Unterstützung und ja, an Empörung.
Zwischen Hype und Hashtag balancierend hat die sogenannte Debatte aus den Augen verloren, was das Kino und was wir alle zu leisten im Stande wären: das Einzelschicksal zu würdigen und klug zu übersetzen – in eigenwillige Fiktion auf der einen und verantwortungsbewusstes Handeln auf der anderen Seite. Dafür lohnt es sich einmal mehr, nicht nur über die Welt des Kinos zu reden, sondern sie auch zu betreten. Denn nicht selten wissen Filme mehr über uns als wir selbst.
Heike-Melba Fendel ist Autorin und Inhaberin der Künstler- und Veranstaltungsagentur Barbarella Entertainment. Sie lebt in Köln und Berlin. Sie ist Mitglied der Redaktion von "10 nach 8". Sie wollen der Diskussion unter dem Text folgen? Hier geht es zum Kommentarbereich. |
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