Freitext: Rainer Merkel: Der Winter ist doch eh nur Bluff

 
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27.10.2017
 
 
 
 
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Der Winter ist doch eh nur Bluff
 
Wenn es draußen ungemütlich wird, sind Herbst- und Winterdepression nicht weit. Dabei könnte alles so schön sein. Man muss nur lernen, sich richtig zu erinnern.
VON RAINER MERKEL

 
© Kinga Cichewicz / – (https://unsplash.com/@lets_run_away)
 
Tagsüber ist alles noch okay. Machmal scheint die Sonne. Und man könnte denken: Vielleicht klappt es ja diesmal. Es ist alles fake und der Winter fällt aus. (Dank Klimawandel und globaler Erwärmung.) Wir haben es schon mal im Sommer versucht, in den Ferien. Wir haben mit Jimmy gesprochen. Wir haben ihm erklärt: „Der Herbst ist eine durch und durch deutsche Jahreszeit. Das gibt es sonst nirgendwo.“ (Das müssen nur wir ertragen.) „Ihr in Südfrankreich habt es echt leicht.“ Aber Jimmy hat nur den Kopf geschüttelt. Müde und ein bisschen traurig. Es fällt leichter, Abschied vom Sommer zu nehmen, wenn man an Jimmy denkt. An seine Karriere und dass sie jetzt langsam zu Ende geht.
 
In der Rue de la Baleine, in Saint-Jean-de-Luz, stand er auf einmal vor uns, mit zwei Gips-Putten in den Händen und sagte: „It’s a bluff job„, und dann strahlte er uns mit seinem gold glänzenden Modelgesicht an. Wir waren auf dem Weg zum Strand, es war ja noch Sommer, gleich würde eine hilfreiche Hand den Sonnenschirm in den Sandboden rammen und weiter ging’s mit Henry James The Aspern Papers und fettigen Fritten nach dem Schwimmen. Jimmy war unser Animateur, der Geschichtenerzähler, der mit seinem Liebhaber, einem französischen Mode-Stylisten, einen winzigen Antiquitätenladen im Stadtzentrum betrieb. An dem kamen wir immer vorbei, wenn wir zum Strand gingen. Später, und es ist eine besonders süße Erinnerung, hätte er uns beinahe verführt, eine goldene Wandlampe mit Palmenüberdachung zu kaufen. (Die würde jetzt während der Herbsttage spätsommerlich goldenes Licht in unsere karge Behausung zaubern.)
 
Jimmy unterteilte sein Leben nach Jahreszeiten. Er liebte es, den Touristen, zu erzählen, dass er als Model der Marlboro Man gewesen war, für Lucky Strike posiert hatte und in Israel am Strand auf dem Pferderücken vor dem Sechstagekrieg geflohen war. Nur ins Wasser, erzählte er, wollten die Pferde nicht, und er musste seine Kollegin anschreien, wie sie zu posieren hatte, weil sie noch so neu im Geschäft war. (Das war der Bluff. Es ging irgendwie um Badehosen.) „Aber sie liebte den Art Director, nicht mich“, sagte er und lachte. Wir sahen ihn im rotbraunen Westbury-Schottenpullover in der Herbstkollektion auf einem Foto aus den 70ern, das er aus einem der Kataloge herausgerissen hatte und jetzt in einer alten schwarzen Mappe aufbewahrte. Wir blätterten sie zusammen mit ihm durch. Manchmal sah er aus wie James Bond, dann wieder wie der Bruder von Jude Law.

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