| | © Jean Gerber/https://unsplash.com/photos/vkCyrRJsHss | Stell dir vor, du wachst eines Morgens auf und weißt: Heute ist der Tag, der dein Leben endlich verändern wird. Und falls du männlich sein solltest, stell dir vor, du seist eine Frau, die sich von Geburt an als Frau fühlen musste, die, auch wenn sie es wollte, kein Mann sein wollen konnte, eine Frau in ihren besten Jahren, eine reife Frau in einer fabrikneuen Welt, in der sie als Weib eine Zumutung ist. Du verachtest dich jeden Tag dafür, dass du nicht als Junge geboren wurdest oder dich wenigstens als Junge fühlen konntest. Du verachtest deine Mutter dafür, dass sie dich nicht rechtzeitig abgetrieben hat. Und deinen anonymen Samenspender hasst du dafür, dass er ein ignorantes Arschloch war, dass er kein Interesse an deiner Geburt gezeigt hat, er hätte dich wenigstens noch totschlagen können. Und deine Selbstverachtung wächst mit jedem Tag, mit dem du älter wirst. Auch wenn dein Spiegelbild dir weismachen will, dass du jünger aussiehst, als du in Jahren zählst, zeigt es dir um die Mundwinkel herum deine Anstrengung im Kampf gegen erschlaffende Haut, ein Zeichen von schwindenden Kräften, von erlahmendem Stolz. Denn jeden Tag müssen die Menschen ihre Nerven mit tollkühnem Stolze elektrisieren, wenn sie wertvoll für die Gesellschaft sein wollen. In deinem gebärfähigen Stadium warst du wenigstens noch als organischer Brutkasten für die neuen jungen Helden erwünscht. Ob du gebärwillig warst, hast du dich nie gewagt zu fragen. Aber heute ist dein großer Tag. Schon seit du zählen kannst, hakst du jede Erdumdrehung seit deiner Geburt gewissenhaft ab, heute machst du dein sechzehntausend-vierhundert-siebenunddreißigstes Kreuz. Zum letzten Mal verkriechst du dich in deiner Uniform und stürzt aus dem Haus. Auf die Straße! Außerirdisch funkelnde Geschosse schlagen ihre Haken kreuz und quer durch die Stadt. Es herrscht herrlicher Krieg vor deiner Tür. Die geschlachtete Zeit schafft neuen Raum und entfaltet gerade noch kraftstoffstrotzende Schwaden, die dich an diese Zapfsäulen für Kettensägen erinnern, an denen du früher nach der Schule abhingst und herumgeschnüffelt hast. Du bist spät. Du kannst dir keine Verspätung leisten. Du musst früher da sein als die anderen. Zögern, schlendern, harren, grübeln oder sich besinnen gehören nicht in deine neue Welt, das machen nur Greise, Invalide, Sterbende, Gelehrte oder Weiber. Klassische Hindernisse auf eurem Rennen um die Zukunft. Die Bahn muss immer freigeräumt werden von diesen Barrikaden, das Herz muss stets unbeschwert und leicht sein auf seiner Flucht nach vorn, wo das Brandneue ist, das Bessere, das Brennen, der Ort, an dem du sein willst, den du nicht verpassen darfst. Aber bis dahin musst du dich sputen. Du erreichst den Hallenkomplex überpünktlich. Der abgesonderte Brennstoff aus deinen Schweißdrüsen strotzt vor Säure von deiner Kraftanstrengung. Auf diesen herkuleshaftigen Marathon hast du dich die letzten Jahre vorbereitet. Du musst originell sein, du lässt dich nicht transportieren. Auf dem Weg nach Halle B passierst du Halle A. Das wusstest du, auch das hast du x-mal durchgespielt. Keinen Blick zur Seite, kein Hadern, kein Überdenken. Blick nach vorn, du bist allein, vorbei am euphorischen Gekreische deiner Leidensgenossinnen, alles Weiber wie du, alles alter gebärunfähiger Ballast wie du, die um schnellere Liquidierung bitten, um Auszahlung ihres letzten Tributs, die ihr Recht auf zügigere Arbeit des Palliativkommandos einfordern, denn das Blut hat nur Wert und Glanz, wenn es aus dem Gefängnis der Arterien durch das Feuer oder das Schwert befreit worden ist! So retten sie rechtzeitig ihren Wertzuwachs. So könntest doch auch du noch alles aus dir herausholen? Du kannst noch links abdrehen und dich ihnen anschließen? Du kannst schnell noch deinen Bonus einfahren?
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