Freitext: Lena Gorelik: Warum schreit das Ich so laut?

 
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18.10.2017
 
 
 
 
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Warum schreit das Ich so laut?
 
 
Vom Selfie-Wahn bis zum personalisierten Kaffeepott: alles schön individuell, bitte. In der Abscheu vor dem Wir und den anderen zeigt sich unsere pubertäre Gesellschaft.
VON LENA GORELIK

 
© Elvis Ma/Unsplash.com
 
Ich habe weder einen Garten noch einen Balkon. Ich habe auch keine Pflanzen in der Wohnung. Das sei nur deshalb erwähnt, um klarzustellen, dass es für mich keinen, aber auch gar keinen Grund gibt, auch nur die Existenz eines Gartenbedarfsartikelfachgeschäft zu bemerken. Subjektive Wahrnehmung, die uns beobachtungslos durch den Alltag führt: Als Nichtraucher weiß man nicht, wo die Tabakläden im eigenen Viertel sind, und wer kein Haustier hat, dem fällt meist nicht auf, dass sich in der Straße nebenan Der Hundling oder Die Zierfisch-Oase findet. Letztens aber blieb ich doch, wahrscheinlich zum ersten Mal in meinem Leben, vor dem Schaufenster eines Garten-Centers stehen, Samenpäckchen, Schaufeln jeder Größe mit unterschiedlichsten Griffen im Schaufenster, ein gestreifter Liegestuhl auch, außerdem ein menschengroßer Blumentopf aus Plastik. Auf dem Topf ein Schild: „Hier können Sie Ihren Blumentopf individualisieren.“
 
Das war so ein Tag: Trump hatte sicherlich wieder getwittert, und noch sicherer waren Kinder in Syrien ermordet worden, im Mittelmeer kämpften Geflüchtete ums Überleben, überhaupt starben sehr viele Menschen, überall und aus unterschiedlichen Gründen, Kinder verhungerten, und Deniz Yücel saß immer noch in Haft. Währenddessen ließen sich andere, Garten- und Pflanzenliebhaber in dem Fall, ihre Blumentöpfe individualisieren. Mit Namen (dem eigenen oder dem der geliebten Pflanze, die möglicherweise Egon heißt, weil man hofft, die altertümliche Ironie dieses Namens erhebe einen über die Tatsache, dass man meint, seine Pflanzen benennen zu müssen) in eigens und mit aller Ruhe („Darf ich das in Avenir noch einmal sehen, aber dann in dem dunklen Blau?“) dafür ausgewählten Schriftart oder möglicherweise mit Bildchen. Hier erreichte meine Wie-Fantasie eine Grenze: Was für Bilder ließ man auf Blumentöpfe drucken?; das Warum hatte schon lang die seine erreicht.
 
Ich stellte mir so eine Wohnung, einen Balkon, eine Terrasse, eine Dachterrasse, einen Garten vor, in denen individualisierte Blumentöpfe standen. Ich stellte mir Brunch-Besucher der Gastgeber vor, die diese individualisierten Blumentöpfe kommentierten oder sich, stockend ob des Begutachtens, des Befremdens, des Fremdschämens, eines Kommentars enthielten. Ich versuchte mir vorzustellen, wie die Brunch-Besucher weder staunten noch sich schämten, sondern sofort in ein Gespräch über individualisierte Blumentöpfe verfielen, stolz von Kreationen auf dem eigenen Balkon berichteten oder sich nach einer Visitenkarte des Blumentöpfe individualisierenden Geschäftes erkundigten. Dazwischen wusste ich keine Antwort auf die Frage nach dem Huhn und dem Ei: War zuerst das Ich und dann die Einsamkeit gewesen oder war es genau andersherum?

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