Freitext: Viktor Martinowitsch: Der liebe Mischa kehrt zurück

 
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31.10.2017
 
 
 
 
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Der liebe Mischa kehrt zurück
 
 
Seit einigen Monaten können EU-Bürger ohne Visum nach Minsk reisen. Sind Ausländer etwa doch nicht allesamt Staatsfeinde und Spione? Über den langsamen Wandel in Belarus
VON VIKTOR MARTINOWITSCH

 
Feier zum Unabhängigkeitstag im Juli 2017 in Minsk © Dan Kitwood/Getty Images
 
In meiner Erinnerung sehe ich meine Mutter 1980 zum ersten Mal weinen. Ich war damals drei. Die Olympischen Spiele in Moskau gingen eben zu Ende, im Fernsehen lief die Schlussfeier. Da tauchte im Stadion nach festlichen Fanfarenstößen plötzlich ein riesiger Bär auf, das Maskottchen dieser Sommerspiele, und ein zutiefst ergreifendes Abschiedslied erklang. Die Kamera zeigte Gesichter auf den Rängen in Großaufnahme. Als der Bär abhob und unter einem Bündel Luftballons in den Himmel schwebte, weinten viele.
 
Weder damals noch als Schulkind zehn Jahre später konnte ich begreifen, worin die besondere Kraft dieses Augenblicks gelegen hatte, wie er mit den darauffolgenden Veränderungen im Land zusammenhing. Und was, bitteschön, hatte allen die Tränen in die Augen getrieben? Erst als Erwachsener, der Stunden und Tage mit der Lektüre und mit Gesprächen über die Endphase der UdSSR, über Afghanistan, Mangelwirtschaft, Warteschlangen und Abschottung gegenüber dem Ausland zugebracht hatte, konnte ich die Pepsi-Cola-Flaschen, die in den 1980er-Jahren in den Geschäften in Minsk aufgetaucht waren, mit jenen fernen Olympischen Spielen in Verbindung bringen.
 
Das Land, das aller Welt immerzu die Zähne zeigte, hatte sich plötzlich für zwei Wochen geöffnet. Die Olympischen Spiele präsentierten die Ausländer nicht als Spione und Agenten wie in den Filmen jener Zeit üblich, sondern als netten Olympiabären mit Mona-Lisa-Lächeln. Dass der Bär nicht für Olympia selbst stand, sondern tatsächlich für die Gäste, wurde aus dem erwähnten Lied deutlich, das Lew Lestschenko und Tatjana Anziferowa sangen:
 
Die Tribünen verstummen, verwaisen,
kurze Tage des Zaubers vergeh’n.
Du darfst heim in den Märchenwald reisen,
lieber Mischa, auf Wiederseh’n.
 
Wir halten fest, dass die Olympischen Spiele (die massenhafte Einreise von Ausländern in die UdSSR) als „kurze Tage des Zaubers“ bezeichnet werden. Noch interessanter ist aber das Attribut „lieb“, mit dem der Ausländer „Mischa“ ausgestattet wird, der nun mit Luftballons „heim in den Märchenwald“ reisen darf, aus dem er in die UdSSR geflogen kam. Die russische Entsprechung „laskowy“ drückt ein Höchstmaß an Zärtlichkeit und Nähe aus und kann auf die Eltern, das Lieblingsspielzeug oder einen treuen Hund bezogen werden, keinesfalls jedoch auf ein Olympia-Maskottchen oder auf ausländische Gäste, die zu den Olympischen Spielen gekommen sind. In weiteren Strophen wird dann gnadenlos von der „Zärtlichkeit“ gesprochen, die in den Herzen zurückbleibe, nachdem die „Freunde gegangen“ sind, und man wünscht einander „nimmer endende Liebe und Wohlsein“.

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