Raus aus dem Opferstatus Wir brauchen keinen weiteren digitalen Aufschrei, wir müssen im Augenblick des Übergriffs laut werden. Statt #MeToo wünsche ich mir ein "Fuck you!" VON SABINE KRAY |
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| | "MeToo" und Mittelfinger: eine Demonstrantin auf einer Anti-Sexismus-Kundgebung in Paris © Bertrand Guay / AFP/Getty Images |
Geteiltes Leid ist halbes Leid, sagt der Volksmund. Doch kann Teilen neues Leid verhindern? Seit einiger Zeit sehe ich bei Facebook das Hashtag MeToo, mit dem Frauen signalisieren, dass sie Opfer von sexueller Gewalt oder Belästigung geworden sind. Auch ich hätte ihn posten können. Aber etwas in mir sperrte sich dagegen. Denn ich fragte mich: Was können wir damit erreichen, wenn wir uns im Nachhinein als Opfer anonymer Täter zu erkennen zu geben?
Den Tätern bin ich in den wenigsten Fällen offensiv entgegengetreten. Leider. Und #MeToo ist ebenso passiv wie ich es in diesen Situationen war, ja, er enthält nicht einmal ein Verb, das eine Idee von Handeln transportieren könnte. Anders als beispielsweise mit dem "Ich habe abgetrieben" der Siebzigerjahre, treten die Frauen nicht als Akteurinnen in Erscheinung. Erneut. Warum der Blick in die Vergangenheit? Warum kein Appell an die Männer, die zu- oder weggesehen haben? Warum keine Drohung?
Statt #MeToo wünsche ich mir #FuckYou. Oder #SpeakUp. Oder #MenDontLetMenBePigs. Es muss normal werden, sich in den Momenten, in denen alltägliche Übergriffe stattfinden, über das eigene Harmoniebedürfnis hinwegzusetzen. Als Betroffene ebenso wie als Zuschauer/innen. An Bushaltestellen genauso wie auf Partys. Wir sind Expertinnen geworden, wenn es darum geht, uns aus der Affäre zu ziehen, Situationen zu entschärfen und Schleichwege aus dem Unbehagen zu finden. Es ist an der Zeit, dass auch diejenigen, die für dieses Unbehagen verantwortlich sind, anfangen zu lernen.
Seit dem vergangenen Sommer ist "Grapschen" nach deutschem Strafrecht endlich eine Straftat. Hat sich in meinem Leben seitdem im Hinblick auf solche Übergriffe etwas verändert? Leider nein. Denn jedes Gesetz braucht Instanzen, die es durchsetzen. Eine Straftat, die nicht angezeigt wird, wird nie vor einem Richter landen.
Bei #MeToo geht es um Solidarität. Das ist ehrenwert. Aber Solidarität sollte über gegenseitiges Wundenlecken hinausgehen. Denn während es gut und wichtig ist, sich unter Gleichgesinnten fallen lassen zu können, besteht ein wichtiger Teil von Solidarität darin, für das Kollektiv stark zu sein. Handeln statt trösten.
Warum befürchten wir, dass es uns beruflich oder privat zum Nachteil gereichen könnte, wenn wir Grapschereien und verbale Avancen oder Herablassungen laut und entschieden ablehnen? Weil wir wissen, dass wir, wenn wir es tun, automatisch zu einer Minderheit werden. Weil wir wissen, dass die meisten anwesenden Männer – und oftmals auch die Frauen – beschämt den Blick senken werden, wenn wir laut und deutlich sagen: "Was bilden Sie sich ein?" oder auch nur "Finger weg!"
Opfer einer Vielzahl anonymer Täter
Bleibt also das Argument, dass eine solche Bewegung eine neue Aufmerksamkeit schaffe, also ein Bewusstsein für ein weitverbreitetes Phänomen. Aber gibt es dieses Bewusstsein nicht längst? Denn jeder Mann hat doch Frauen in seinem nahen Umfeld: Mütter, Schwestern, Freundinnen und Kolleginnen. Ein Bekannter erzählte mir gerade auf einer Party, dass seine Freundin ihn des Öfteren anrufe, wenn sie sich auf dem Heimweg unwohl fühle. Und das macht ihn ebenso wütend wie mich. Ich möchte unterstellen, dass jeder Mann diese Erfahrung schon einmal gemacht hat – geliebte Menschen als potenzielle oder tatsächliche Opfer sexueller Übergriffe unterschiedlicher Intensität zu wissen.
Gleichzeitig steht fest, dass eine Reihe dieser Männer ganz selbstverständlich selbst zu Tätern und Belästigern werden. Und dass eigentlich jeder Mann schon einmal daneben gestanden hat, während ein anderer übergriffig wurde. Meistens tatenlos. Und wahrscheinlich ist es auch das, was mich stört an #MeToo. Dass jetzt alle so tun, als ob man es vorher einfach nicht gewusst habe, ja, das Ausmaß schlichtweg nicht begriffen habe. Das ist verlogen, das ist Heuchelei.
"Hör auf damit!" statt "Hol mich hier raus"
Mit #MeToo könnte ich mich also als Opfer einer Vielzahl anonymer Täter identifizieren. Und dann? Ich bin – und an dieser Stelle spreche ich zunächst einmal für mich selbst – in vielen Fällen nicht aufrecht aus Situationen hervorgegangen, in denen ich begrapscht, verbal belästigt oder zum Sexualobjekt reduziert worden bin. Mir und meinem Umfeld das noch einmal vor Augen zu führen, wird daran nichts mehr ändern. Die Gründe für mein Schweigen in diesen Momenten sind vielschichtig. Einmal handelte es sich um den Partner einer Freundin, viele andere Male spielte sich das Ganze in einem professionellen Umfeld ab, oder im Privaten – will ich das schöne Abendessen bei Freunden ruinieren, weil sich jemand benimmt wie eine offene Hose? Oder die berufliche Beziehung aufs Spiel setzen, "bloß" weil jemand mir beherzt an die Taille greift und nicht mehr loslässt, bis es mir gelingt, mich ohne großes Aufhebens körperlich aus der Affäre zu ziehen?
Wie oft habe ich Freunden und Freundinnen mit Blicken "Hol mich hier raus" signalisiert, statt laut zu sagen: "Hör auf damit!" Und zwar zu demjenigen, der für dieses Scheißgefühl, diese Bedrängnis, verantwortlich war. Und wie oft war es schlichtweg die nackte Angst davor, noch mehr Gewalt zu erfahren, beispielsweise nachts an der Bushaltestelle.
Ich möchte nicht mehr zurückschauen
Darüber hinaus verweigert sich das Hashtag einer Differenzierung. Vergewaltigung und Belästigung werden unter ein- und demselben Begriff zusammengefasst, was natürlich den Vorteil hat, dass das Outing für jene Frauen leichter wird, die tatsächlich drastischere Formen der sexuellen Gewalt erfahren haben. Und doch bleibt der Begriff auf eine gewisse Art und Weise diffus. Was geschieht da, welches Gefühl hat das in mir ausgelöst? Diese Frage lässt #MeToo offen. Denn die Bandbreite ist von Übergriff zu Übergriff groß – es gibt Momente der Wut, der Angst, der Überforderung, der Frustration, des Kopfschüttelns und ja, auch der Hilflosigkeit. Manchmal ist es alles auf einmal. Wenn wir darüber reden wollen, dann lasst uns reden, aber dann gleich richtig.
Ich möchte nicht mehr zurückschauen. Ich möchte auch nicht klagen, wie ätzend das manchmal gewesen ist, sich in den eben beschriebenen Situationen wiederzufinden. Ich möchte mir vornehmen, zukünftig zu handeln. Mir selbst und allen anderen zu zeigen, dass eine neue Zeit angebrochen ist. Eine, in der es normal ist, dass Frauen klare Grenzen ziehen und eine, in der ihre Mitmenschen, egal ob Männer oder Frauen, sie dabei unterstützen, statt betreten wegzuschauen.
Wenn von heute auf morgen jede von uns den Mut zu einem deutlichen "Nein!" oder gar einem "Fuck You!" aufbringen könnte, wäre das Solidarität in ihrer schönsten Form.
Sabine Kray wurde 1984 in Göttingen geboren. Heute lebt sie in Berlin, wo sie als Autorin und Übersetzerin arbeitet und sich als Mentorin für junge Mädchen bei der Bürgerstiftung Neukölln engagiert. Ihr Debüt "Diamanten Eddie" ist im Frühjahr 2014 bei der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8". Sie wollen der Diskussion unter dem Text folgen? Hier geht es zum Kommentarbereich. |
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