Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte recht, als er wenige Tage vor der Bundestagswahl mahnte: "Manche Menschen fühlen sich nicht vertreten oder haben überhaupt Zweifel daran, dass unser Staat die wirklich brennenden Probleme lösen kann. Manche haben das Vertrauen in die demokratischen Prozesse und Institutionen, aber auch in die Medien verloren."
Denn egal, wie man das Wahlergebnis dreht und wendet, ob man den Einzug der rechtspopulistischen AfD in den Bundestag für einen historischen Unglücksfall hält oder für die zwangsläufige Folge längst vorhandener Stimmungen und politischer Unterströmungen: Eines spiegelt diese Wahl auf jeden Fall wider – die Spaltung der deutschen Gesellschaft und die Enttäuschung und Entfremdung eines nicht geringen Teils der Bevölkerung. Es existiert eine
wachsende Kluft zwischen rechts und links, oben und unten, West und Ost. Zwischen Stadt und Land sowie zwischen betuchten und notleidenden Stadtteilen innerhalb der großen Metropolen.
Der
Erfolg der AfD legt jedenfalls nahe, dass diese Partei trotz ihrer Querelen keine politische Eintagsfliege sein wird. Zum einen haben ihr die bisherigen Skandale nicht geschadet. Zum anderen ist sie inzwischen zu fest verankert, um sogleich wieder zu verschwinden: Mit 12,6 Prozent ist die AfD die drittstärkste Partei im Bundestag. In Ostdeutschland stellt sie (hinter der CDU) sogar die zweitstärkste, in Sachsen mit 27 Prozent die stärkste politische Kraft.
Die Rechtspopulisten haben auch im Westen Fuß gefasst und holten dort am vergangenen Sonntag, je nach Bundesland, zwischen knapp acht und rund zwölf Prozent. Den höchsten Stimmenanteil gewannen sie ausgerechnet in den wirtschaftlich besonders prosperierenden Ländern Baden-Württemberg (12,2 Prozent) und Bayern (12,4 Prozent).
Grob betrachtet, stimmt es zwar: Der Westen ist nach wie vor ein bisschen resistenter gegen die AfD als der Osten, Großstädte sind weniger anfällig als das Land, die Mittelklasse weniger als Geringverdiener. Auch breitet sich die AfD dort besonders stark aus, wo man Ausländer, Deutsche mit Migrationshintergrund und Muslime mit der Lupe suchen muss. So gehören zum Beispiel nur 0,48 Prozent der Sachsen dem islamischen Glauben an.
Und dennoch wäre es falsch, daraus vorschnelle Schlüsse zu ziehen und so zu tun, als wüssten wir bereits alles über die tieferen Gründe über den Aufstieg der AfD und müssten nichts mehr dazulernen. Das Wahlergebnis ist bei genauerer Betrachtung verwirrender als oft behauptet: Die AfD ist nicht
DIE Partei der Arbeiter, der Arbeitslosen, der Verlierer, auch nicht der alten Leute. Sie ist in erste Linie die Partei mittelalter Männer – und ebenso das mit Einschränkung. Im Osten stimmten immerhin auch 17 Prozent der Frauen für sie.
Außerdem: Die Rechtspopulisten sind überall in Deutschland präsent, kein Bundesland, keine größere Region ist gegen sie immun, auch nicht der Westen. In Gelsenkirchen holte die AfD 18 Prozent. Und selbst in Hamburg, wo "nur" 7,8 Prozent der Wähler für Rechtsaußen stimmten, gibt es Wahlbezirke wie etwa Billwerder-Moorfleet, wo die AfD auf 41 Prozent kam.
Die Ursachen für den Aufstieg der AfD sind zahlreich und vielschichtig, es gibt soziale, politische und kulturelle Gründe. Doch stehen wir mit unseren Deutungsversuchen erst am Anfang und sollten uns darum vor zu eiligen Erklärungsmustern und Pathologisierungen hüten.
Der Bundespräsident muss das Jackett ausziehen Natürlich hat die AfD einen harten, äußerst rechten bis rechtsextremistischen Kern. Die völkisch Denkenden, die Rassisten, die Verfassungsfeinde und verblendeten rechten Ideologen wird man niemals erreichen, sie kann man nur politisch und mit den Mitteln des Strafrechts bekämpfen.
Doch bilden weder alle Wähler der AfD noch sämtliche ihrer Mitglieder und Volksvertreter eine homogene Einheit. Das zeigen bereits
die ersten Zerfallserscheinungen der Partei, kaum ist sie in die Parlamente eingezogen.
Die AfD – und insbesondere ihre Wählerschaft – besteht aus konzentrischen Kreisen. Je weiter sie vom radikalen, extremen Kern entfernt ist, desto eher kann es gelingen, sie in die demokratische Mitte zurückführen. Laut Umfragen haben 60 Prozent der AfD-Wähler die Partei nicht aus ideologischer Überzeugung, sondern aus Protest gewählt.
Diese Unzufriedenen aufzuspüren, sie anzuhören, mit ihnen ins Gespräch zu kommen und, wenn nötig, mit ihnen auch heftig und unnachgiebig zu streiten – das ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Und es ist eine vordringliche Aufgabe des Bundespräsidenten. Jetzt schlägt die
Stunde von Frank-Walter Steinmeier, denn es ist seine Aufgabe als Staatsoberhaupt, die Bruchlinien in Deutschland aufzuspüren und kenntlich zu machen.
Niemand ist berufener, mit der Würde seines Amtes, mit gezielten Worten und klaren Gesten darauf aufzupassen, dass der mürbe gewordene gesellschaftliche Kitt nicht völlig zerbröselt.
Es ist wahr, was Steinmeier neulich sagte: "Statt an der Oberfläche zu bleiben, sollten wir Demokraten unseren Blick auf diese tiefer liegenden Erschütterungen unserer Zeit richten. Das ist ein Wagnis. Denn auf viele Fragen, die uns dabei begegnen, haben wir oft noch keine guten Antworten. Aber das sollte uns nicht davon abhalten, sie zu stellen. Wir brauchen den Mut, Irritationen, Zweifel und Ungewissheiten zuzulassen. Wir haben allen Grund dazu, uns irritieren zu lassen."
Man redet mit den Falschen Doch diese Worte vernahmen leider nur jene Bürger, die genauso denken und nicht überzeugt werden müssen. Die, die es aber angeht, die sich derzeit von der Politik nicht vertreten und verstanden fühlen, die sich von den traditionellen Parteien abwenden und mit ihrer Stimmabgabe protestieren und irritieren wollen, hörten die Worte nicht. Diese Menschen sehen, hören und lesen auch nicht jene Medien, die die Botschaft des Bundespräsidenten anschließend verbreitet haben.
Frank-Walter Steinmeier sprach diese Sätze vier Tage vor der Wahl, am 19. September zur Eröffnung einer neuen Veranstaltungsreihe, die den Titel
Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie trägt. Er sprach sie vor einem erlauchten Kreis. Auf dem Podium saßen lauter kluge Leute, im Publikum ebenso. Der Ort des Events war der Amtssitz des Präsidenten, das Schloss Bellevue.
Es war ein Abend der Elite für die Elite an einem elitären Ort – und ausgerechnet mit einem brennenden Thema, das gerade jene Menschen erreichen soll und erreichen muss, die dieser Elite skeptisch bis ablehnend oder gar feindlich gegenüberstehen.
Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, der als einer der Ersten die wachsende Entfremdung und Radikalisierung mancher Deutschen spürte, tauchte hin und wieder spontan in Bürgerversammlungen auf und stellte sich den Wütenden und Enttäuschten. Doch gab es zu wenige von seinem Schlag.
Nicht, dass sich Frank-Walter Steinmeier verstecken würde. Aber die Debatte über die Zukunft der Demokratie muss weit stärker als bisher ins Land hinausgetragen und, wenn nötig, mit harten Bandagen geführt werden. Sie sollte dringend neue Formen, eine neue Sprache und andere Mitdiskutanten finden – und unbedingt dort geführt werden, wo der demokratische Konsens dem größten Druck von rechts ausgesetzt ist und man irritiert wird. Dafür muss der Bundespräsident sein Jackett ausziehen und das Schloss verlassen.