10 nach 8: Silke Burmester über die Ehe für alle

 
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02.10.2017
 
 
 
 
10 nach 8


Ab sofort: Spießertum für alle!
 
Lesben und Schwule sind wie alle. Das ist Grundlage ihrer Gleichberechtigung. Ihr Wunsch nach der Ehe zeigt: Sie sind auch genauso bieder wie alle.
VON SILKE BURMESTER

 Ein mehrheitsfähiger Traum: Hochzeit feiern © Tom/unsplash.com
 
Ein mehrheitsfähiger Traum: Hochzeit feiern © Tom/unsplash.com
 
 

Es war ein notwendiges Missverständnis, anzunehmen, lesbische Frauen und schwule Männer seien weniger spießig, weniger langweilig und hätten ein geringeres Bedürfnis nach Anpassung als heterosexuelle Frauen und Männer. Diese Fehleinschätzung begleitete den Befreiungskampf der Homosexuellen der 1970er- und 1980er-Jahre und war Grundlage dafür, homosexuelle Ausrichtung als politisch zu begreifen. Gerade für Frauen, die sich während der Emanzipationsbewegung wie ein Bohrer durch die Mauern des Patriarchats fraßen, war das Lesbischsein mit dem Ideal verknüpft, ein Leben außerhalb patriarchaler Strukturen führen zu können.

Grenzte es zwar Frauen voneinander ab, ob sie beim Sex einen Penis in der Vagina haben oder etwas anderes, einte sie doch das Ziel, als eigenständiges, unabhängiges Wesen wahrgenommen zu werden und sich als solches in der Gesellschaft zu behaupten. Es war die Zeit, als Frauen gegen die Hausfrauenrolle aufbegehrten und Scheidung eine Option wurde, um eine ungute Ehe zu beenden (und viele den Mut fanden, zu schauen, was es mit der Liebe zu und unter Frauen auf sich hat). In den 1970er-Jahren war die Befreiung aus der Ehe für viele mehr als ein individueller Akt im luftleeren Raum. Es war auch ein politischer Akt in einem gesellschaftspolitisch relevanten Kontext.

Warum hätte in einer solchen Zeit irgendeine Lesbe auf die Idee kommen sollen, heiraten zu wollen? Heiraten, das war das Korsett der anderen, die Zwangsjacke, in die sich arme Heteros aus irgendeinem unverständlichen Grund – noch dazu freiwillig – begaben. Auch viele schwule Männer blickten mitleidig auf die Entsagung, zu der sich so viele ihrer Geschlechtsgenossen verpflichteten, während ihr Leben auch innerhalb einer festen Beziehung so viele hübsche Alternativen bereithielt.

Es ist eine Freude, ein Sieg, ein Triumph, wenn jetzt, rund 40 Jahre später, zum 1. Oktober Lesben und Schwule eine Ehe eingehen können, die der zwischen Heterosexuellen gleichgestellt ist. Wenn ihnen nicht länger lediglich eine "Verpartnerung" angeboten wird, die in ihren beschnittenen Rechten so deutlich machte: Ihr seid als Mensch nicht gleichberechtigt. Ihr habt den falschen Sex. Ihr macht mit euren Geschlechtsteilen nicht das, was die Mehrheit damit macht und was die Kirche gut findet, weswegen wir euch leider die Rechte der Mehrheit vorenthalten.

Der neue alte Traum vom Happy End

Wenn jetzt die Ehe für alle möglich ist, wenn man jetzt bereit ist, Lesben und Schwulen die gleichen Möglichkeiten wie Heterosexuellen einzuräumen, dann hat das auch damit zu tun, dass der Sex der Heteros sich aus der Missionarsstellung befreit hat. Damit, dass auch sie heute zum Teil sehr selbstverständlich Dinge tun, bei denen sich die Grenzen zwischen Hetero und Homo auflösen. Es hat damit zu tun, dass Lesben und Schwule weniger kämpfen müssen. Dass sie ihre vermeintliche Andersartigkeit nicht mehr hervorstellen müssen, wenn sie Gleichheit verlangen.

Mit den Jahren ist die "Tunte" verschwunden. Der schrille, überdrehte Mann mit Handtasche und Federboa, der im Café Tuc Tuc ein Likörchen trinkt. Stattdessen kann man aus wohl jeder politischen Fraktion mindestens einen offenlebenden Schwulen oder eine Lesbe benennen. Politiker und Politikerinnen, die ihr Amt nicht für die Gleichstellung nutzen, sondern dafür, Europas Grenzen dichtzumachen oder Konsequenzen für Autofirmen im Dieselskandal zu fordern.

Die Homosexualität ist, in großen Teilen, in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen. Und damit genau dort, wo die Langeweile zu Hause ist. Die Bürgerlichkeit. Und eben auch die Ehe. Die Bewegung hin zur Mitte hat die Ecken und Kanten der Schwulenbewegung und ihrer Protagonistinnen und Protagonisten gerundet und die Unebenheiten abgeschliffen. Der Wunsch entstand, so zu sein wie die anderen, die Norm einer heterosexuellen Gesellschaft wurde erstrebenswert. Das Glück liegt in der Bürgerlichkeit, egal ob wir uns in das andere Geschlecht verlieben oder in das eigene. Und das ist es vielleicht auch, was der Ehe für alle den leicht bitteren Beigeschmack gibt: Die Erkenntnis, dass für so viele Menschen das bürgerliche Leben ein anzustrebendes Ideal ist. Selbst wenn man "anders" ist, möchte man doch gleich sein. Andere Lebensentwürfe, andere Vorstellungen und Ideale werden in das Normsystem der Anpassung gequetscht. Die eigene Identität, egal, welcher sexuellen Orientierung, wird der Konformität untergeordnet. Verheiratet sein – der neue alte Traum vom Happy End.

Wenn man der Meinung anhängt, dass das Private politisch ist, dann bringt diese Sehnsucht nach Biederkeit etwas Enttäuschendes mit sich. Gleichzeitig ist sie das beste Indiz dafür, dass es keine Grundlage für die Ausgrenzung Homosexueller gibt: Lesben und Schwule sind genau so spießig wie ein Großteil der Bevölkerung. Und je mehr Rechte und wirkliche Gleichberechtigung ihnen zugestanden wird, desto braver werden sie. Es ist das Prinzip, mit dem Gruppenleiter aufsässige Teilnehmer bändigen: Einbinden. Bezieh' die Störer ein, gib ihnen die Möglichkeit, Teil des Geschehens zu sein, und sie werden handzahm.
Es gehört zum Prinzip der gleichen Rechte für alle innerhalb einer Gesellschaft, dass jeder die Möglichkeit auf alle Optionen hat. Wer spießig sein will, dem soll die Möglichkeit gegeben werden. Spießertum für alle! Unbedingt.

Silke Burmester, Journalistin, Autorin und Natural-born-Feminist. Sie lebt in Hamburg, hat einen Sohn und war nie verheiratet. Sollte sie mit 75 von Altersarmut betroffen sein, will sie einen alten Sack ehelichen. 


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