Alexander Gauland, Spitzenkandidat der AfD, bleibt sich treu. Letztes Jahr entblödete er sich nicht zu behaupten, den deutschen Nationalfußballer
Jérôme Boateng wollten die Leute nicht als Nachbarn haben. Jetzt leistete er sich die Ungeheuerlichkeit, Aydan Özoguz, die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, mit "Entsorgung in Anatolien" zu drohen.
Im Mai hatte die in Hamburg geborene SPD-Politikerin, Tochter türkischer Gastarbeiter,
im Tagesspiegel geschrieben: "Eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht zu identifizieren." Auf diesen Satz bezog sich Gauland bei einer Wahlveranstaltung im thüringischen Eichsfeld. Wörtlich: "Das sagt eine Deutsch-Türkin. Ladet sie mal ins Eichsfeld ein und sagt ihr dann, was spezifisch deutsche Kultur ist. Danach kommt sie hier nie wieder her, und wir werden sie dann auch, Gott sei Dank, in Anatolien entsorgen können."
Es wäre schlimm genug gewesen, hätte der notorische Volksverhetzer Gauland gesagt: nach Anatolien entsorgen". Aber er verstieg sich zu der Formulierung "in Anatolien entsorgen". Man kann, ja muss das als Aufforderung zum Mord verstehen. So einer hat in der deutschen Politik nichts zu suchen, und schon gar nichts in den Talkshows unserer öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten. Er
gehört vor Gericht.
Etwas ganz anderes ist es indessen, was Aydan Özoguz eigentlich geritten hat, als sie die deutsche Kultur auf die Sprache reduzierte. Ich kenne und schätze sie seit Jahrzehnten, aber da hat sie sich vertan. "Schlicht" mag die deutsche Kultur in der Tat nicht identifizierbar sein. Weniger schlicht – sagen wir: differenzierter und tiefschürfender – geht das schon. Viele große Geister haben sich an dem Thema abgearbeitet: Goethe und Schiller, Friedrich Nietzsche und Thomas Mann, Theodor Adorno und Karl Jaspers; zuletzt hat Dieter Borchmeyer im Frühjahr sein 1.055 Seiten dickes Werk
Was ist deutsch? vorgelegt.
In 5.000 Zeichen lässt sich die facettenreiche Diskussion nicht nachzeichnen. Ich belasse es bei fünf Bemerkungen.
1. Aydan Özoguz beschränkt sich nicht auf die Frage, ob es eine deutsche Leitkultur gibt, geben soll oder geben darf. Vielmehr stellt sie in Frage, dass es überhaupt eine deutsche Kultur jenseits der Sprache gibt. Selbstverständlich gibt es sie – wie ja auch, was nicht zu leugnen ist, eine französische, britische oder englische Nationalkultur jenseits der Sprachen existiert.
2. Kultur ist mehr als Sprache, mehr auch als politische Kultur, Verfassungspatriotismus also und Grundgesetztreue. Sie ist ein Mosaik aus der Literatur, der Musik, der Kunst und der Philosophie eines Landes, das seinen gesamten geistigen und ästhetischen Raum umfasst. Auch der Glaube prägt – und selbst jene, die keine Glaubenschristen mehr sind, ob sie dies wahrhaben wollen oder nicht, noch immer Kulturchristen – bis hin zum Vaterunser am Grab. Dazu kommt der Alltagsraum von Empfinden und Benehmen, vom Bauen und Wohnen, auch von Essen und Trinken. Tradition und Geschichte überformen dies alles.
Im kollektiven Bewusstsein fügt es sich zusammen zur nationalen Identität. Wobei Ortega y Gasset völlig recht hatte, als er sagte: "Vier Fünftel unserer inneren Habe sind europäisches Gemeingut." Für das rein Nationale bleiben da nur 20 Prozent.
3. Identitäten wandeln sich. An diesem Wandlungsprozess haben auch die Zugewanderten Anteil. Das waren viele in unserer Geschichte. Carl Zuckmayer hat sie in "Des Teufels General" angeführt: "Da war ein römischer Feldhauptmann, ein schwarzer Kerl, braun wie ne reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler, ein griechischer Arzt, ein keltischer Legionär, ein Graubündner Landsknecht, ein schwedischer Reiter, ein Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak, ein Schwarzwälder Flötzer, ein wandernder Müllerbursch vom Elsaß, ein dicker Schiffer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler, ein böhmischer Musikant – das hat alles am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder gezeugt."
Nietzsche hat es weniger poetisch ausgedrückt. Er schrieb, die Deutschen seien mehr als die anderen europäischen Völker "ein Volk der ungeheuerlichsten Mischung und Zusammenrührung von Rassen." Das Mischungsverhältnis hat sich in dem deutschen Amalgam ständig verändert und es wird sich weiter verändern. Wie die meisten chemischen Amalgame ist es unumkehrbar.
4. Im Laufe der Jahrhunderte haben wir viel Fremdes uns anverwandelt und zu eigen gemacht. Doch was da zu Deutschen zusammengerührt wurde, hat immer Rückhalt im Eigenen gesucht. Das ist die natürlichste Sache der Welt. Warum sollte es heute anders sein? Anverwandlung ist die Aufgabe. Und machen wir weder uns noch den Zuwanderern etwas vor. Integration derer, die bleiben dürfen und bleiben wollen, heißt in der Perspektive von zwei, drei Generationen nichts anderes als Assimilierung.
5. Zweierlei sollten die Deutschen ohne Migrationshintergrund einräumen. Erstens: Ebenso prägend wie die gemeinsame Nationalkultur sind unsere landsmannschaftlichen Regionalkulturen. Sanssouci und Neuschwanstein, Fachwerk und Reetdach, Leberkäse und Labskaus, Spätzle und Saumagen.
Zweitens: Auch Deutsche ohne Migrationshintergrund tragen die deutsche (Leit)Kultur nicht ständig im Rucksack, in der Damenhandtasche oder dem Aktenkoffer. Unsere Bildungspolitik demontiert sie auf Schmählichste, unsere abendliche Fernsehkost reduziert sie dümmlich auf Krimis, Kochereien und Quizprogramme. Aber das wäre ein anderer Kommentar.
Zum Schluss habe ich indes eine Frage. In dem
Tagesspiegel-Artikel forderte Özoguz eine "interkulturelle Öffnung in allen Bereichen". Wirklich in allen Bereichen? Wo würde sie die Grenze ziehen?