10 nach 8: Marlen Hobrack über weibliche Sexualität

 
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27.09.2017
 
 
 
 
10 nach 8


Oh, mein Gott, ja: Sex sells!
 
Legionen von Websites und Sextoy-Produzenten widmen sich neuerdings der weiblichen Lust. Aufklärung ist gut, aber wollen Frauen auf diese Art befreit werden?
VON MARLEN HOBRACK

Amerikaner entdecken  Alle wollen das gleiche: Besucher des Münchner Oktoberfests © Jörg Koch/Getty Images Zuneigung für Deutschland © Odd Andersen/AFP/Getty Images
 
Der weibliche Orgasmus als Mysterium, dem man nur mit Wissenschaft und Hightech beikommen kann? Naja. © Matheus Ferrero/unsplash.com
 
 

Seit Jahrhunderten ist weibliche Sexualität eine Quelle vor allem männlicher Irritation. So grundlegend war und ist die Verwirrung über das, "was Frauen wollen", dass Männer der Erkundung weiblichen Begehrens ganze Bibliotheken widmeten. Berühmt-berüchtigt ist die freudsche Resignation am Ende einer langen Laufbahn: "Was will das Weib?" Auch gründlichste Seelenforschung konnte die Frage nicht beantworten. In der feministischen Kritik führte dieser Umstand zu einem erheblichen Missverständnis: Freud habe das weibliche Begehren nicht verstanden und es daher kurzerhand als unverständlich gebrandmarkt. Dabei ist Freuds Bemerkung über das nicht zu ergründende Wollen der Frau eine Sensation, schreibt es der Frau doch überhaupt erst ein Wollen oder "Begehren" zu, wie Jacques Lacan es nennen würde. Freuds Verzweiflung ist die Kapitulation des Mannes vor der unergründlichen Tiefe des weiblichen Begehrens. Dafür muss man sich nicht schämen.

Auch Jahrzehnte später nähern wir uns dem weiblichen Begehren in all seinen psychischen und sexuellen Dimensionen mit derselben spätviktorianischen Tollpatschigkeit. Zwar ergötzen wir uns nicht länger an öffentlich inszenierten, hysterischen Anfällen von Frauen, wie es die Zeitgenossen des Psychiaters Charcot taten. Aber an ihre Stelle sind Instagram-Kampagnen zur Befreiung des Nippels und gelegentliche Unten-Ohne-Auftritte weiblicher Stars getreten. Das Weib will Befreiung. Doch wie befreit man das Weib?

Tatsächlich sind Vokabeln wie "Befreiung", "Empowerment" und "Feminismus" inzwischen echte Verkaufsschlager. Keine will sich schließlich unterdrückt fühlen, und wenn Nippelblitzer der Gipfel der Selbstbestimmung sind, können alle freudig mitbestimmen. Feminismus darf endlich sexy sein. Spätestens seit Femen-Aktivistinnen lautstark und recht nackt auf ihr politisches Begehren aufmerksam machten, wissen wir: Sex sells feminism. Ich persönlich habe mich beim Anblick baumelnder Brüste noch nie sonderlich befreit gefühlt; das aber mag meinem Freikörperkultur-Trauma geschuldet sein. So oder so: Die Befreiung der Frau beginnt bei ihren Geschlechtsorganen. Wohl deshalb widmen sich neuerdings Legionen von Websites und Sextoy-Produzenten der weiblichen Lust.

Frauen sind manchmal auch pervers

Der Befreiungshorror begann, als immer mehr Sexbloggerinnen ihr Intimstes in saftig-deftigen Blogposts ausbreiteten. Bloggerinnen wie Girl on the Net erlangten rasch Berühmtheit. Ihre Botschaft war auch wirklich "empowering": Frauen haben Lust. Frauen sind manchmal auch pervers. Und vielleicht langweilt sie der Sex mit Männern auch nur deshalb, weil die Kommunikation ihrer Bedürfnisse vielen nicht selbstverständlich ist. Bloggerinnen schickten sich an, den Mythos der Migräne vortäuschenden, gelangweilten Ehefrau zu zertrümmern. Aber dann wurde Blogging zu einer Karriereoption dank Sponsoring-Deals mit Sextoy-Herstellern.

Ich nehme Recherche sehr ernst. Schon deshalb folgte ich in Vorbereitung auf diese Kolumne dutzenden Sextoy-Bloggern auf Twitter. Fazit: Man fühlt sich doch etwas erschlagen von täglichen Updates zu stufenlos verstellbaren, lautlos vibrierenden Superspezial-Anal-Vaginal-Klitorial-Befriedigungsmaschinen, von denen einige so skurril aussehen, dass man auch mit viel Fantasie nicht erkennt, wo oder wie man sie einzuführen hätte. Wirklich schön sind die Namen dieser Geräte. Sie heißen "Satisfyer Pro" oder "Inspector Midnight". Frauen zu befriedigen ist eine Sache für Profis. All diese Geräte umgibt ein Hauch von Hochtechnologie. Und Formaldehyd.

Das sächsische Start-up-Unternehmen Laviu zum Beispiel sammelte via Crowdfunding Geld für eine Sextoy-Kollektion. Die sollte dank des Einsatzes von Materialien aus der Luft- und Raumfahrtindustrie atemberaubende Orgasmen ermöglichen. Die designten Geräte sahen aus wie futuristische Dildos in den Rothemden-Uniformen der Star-Trek-Crews. Immerhin war das Produkt formschön, was man über die Mehrzahl bonbonfarbener Vibratoren, die neuerdings schon im Nachmittagsfernsehen beworben werden, nicht sagen kann. Genderismus macht auch vor Sextoys nicht halt. Alles muss irgendwie quietschpink oder sanft violett sein; bei der optimalen Stimulation unterstützen kleine Häschenohren an den Spitzen der Geräte. Selbst Nippelklemmen werden mit baumelnden Dekosteinen verziert, sodass man sie glatt für Ohrhängerchen halten könnte.

Aber ist all das nicht toll? Vergessen sind die Zeiten, da Frauen ihre "Massagestäbe" verstohlen im Neckermann-Katalog ordern mussten, wo die verkniffen lächelnden Models gold- oder silberfarbene Vibratoren an ihren Nacken hielten, um die Massagefunktion zu demonstrieren. Überhaupt, werden Sie sagen, was meckert die Frau da über das, was andere sich einführen? Kann sie sich nicht um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern? Sie haben ja recht. Und irgendwie auch nicht. Denn es geht, wie immer, ums große Ganze.

Die weibliche Lust, ein dunkler Kontinent

Nehmen wir nur die Website OMGYes.com, die sich scheinbar großer Beliebtheit erfreut seit Emma Watson, jungfeministische Ikone, diese in einem Interview empfahl. Aufklärung für Frauen! Feine Sache. Schon die Startseite verkündet, hier finde sich ein "neuer, praktischer Ansatz, um die vielfältigen Wege zur weiblichen Lust zu erkunden – auf der Grundlage aktueller Forschung". Die Internetseite gibt sich alle Mühe, weibliche Lust als dunklen Kontinent darzustellen, der nur mit allerneusten Forschungsmethoden ergründet werden kann.

Wir lernen: Frauen benötigen Anleitung, müssen aus Studien und medizinischen Versuchsreihen lernen und die detaillierten, nicht ganz billigen Anleitungsvideos von OMGYes anschauen. Gott bewahre, dass Frauen ihre Körper auf eigene Faust (no pun intended!) erforschen. Stattdessen müssen standardisierte Produkte her. Der urfeministische Ansatz, Frauen durch das Wissen über den eigenen Körper zu befreien, wird verkehrt in eine kapitalistische Heilslogik, die Orgasmen zum Ergebnis ausgefeilten Produktdesigns und minutiöser Grundlagenforschung erklärt.

Dagegen müsste man nichts haben – schließlich obliegt es jeder Konsumentin, sich für oder gegen den Kauf zu entscheiden –, würden die Produkte nicht die mythische Vorstellung von hochkomplexer weiblicher Sexualität perpetuieren. Sextoy-Hersteller und Instruktionswebsites tragen das Vorurteil "Frauen haben es schwerer, zum Orgasmus zu kommen" wie ein Mantra vor sich her. Hört man es nur oft genug, gönnt man sich gern ein teures Spielzeug, das Hilfe verspricht.

Hat eine Frau dagegen viel Lust und ist sie sogar befreit, so frei, dass sie sehr offen sexuelle Bedürfnisse lebt, dann wird das rasch pathologisiert. Dass die Figur der Nymphomanin in der Popkultur und dem ICD-10-Krankheitskatalog durch den Typus der "Borderlinerin" ersetzt wurde, ändert nichts am Fortleben des Klischees. Sexuelle Hyperaktivität ist übrigens eines der Diagnose-Kriterien für die Borderline-Persönlichkeitsstörung. Kein Wunder, dass sie so selten bei Männern diagnostiziert wird. Was hyperaktiv ist, ist schließlich Definitionsfrage.

Wie sich selbst behauptende, weibliche Lust zensiert wird, weil sie unverständlich ist und Angst macht, zeigt sich schön am Beispiel des Filmes Trainspotting II, der auf Irvine Welshs Roman Porno basiert und Anfang dieses Jahres in die Kinos kam. Natürlich verfügen Filme häufig sehr frei über Buchvorlagen. Nur ist es eben bezeichnend, dass die weibliche Hauptfigur des Romans im Film überhaupt nicht vorkommt. Jene sexuell aktive, von Ennui und dem Wunsch nach Ruhm getriebene Nikki, die in Sick Boys Porno zu einem kleinen Star wird, ersetzt der Film durch die osteuropäische Armutsprostituierte Veronika. Während Nikki im Roman permanent ihre sexuellen Wünsche und Abneigungen artikuliert, ist Veronika im Film das personifizierte Schweigen. Ihre Rolle erschöpft sich buchstäblich darin, den mittelalten Männern Renton und Sick Boy mit großen Augen beim Ausleben ihrer Kleinjungenfantasien zuzuschauen. Renton darf ihr gegenüber seinen Monolog aus dem ersten Film wiederholen und erweitern. Renton mansplaint die Welt; Veronika hört zu.

Während die schlaue Studentin Nikki aus der englischen Mittelklasse stammt, schafft Veronika an, um ihr Kind zu versorgen. Nikkis Begehren wird so klar und offen formuliert, dass Freud vor Schreck die phallisch-geformte Zigarre aus dem Mund kippen würde. Wirkt sie auf den ersten Blick auch noch so sehr wie eine Männerfantasie: Ihr Begehren ist selbstbestimmt. Veronika dagegen spezialisiert sich in Sick Boys Auftrag aufs Pegging: Das Penetrieren von Männern mit Riesendildos ist aber nicht wirklich ein emanzipatorischer Akt und dient im Film vor allem dazu, männliche Unterwerfungsfantasien lächerlich zu machen. Die eigentliche Botschaft des Romans geht dann auch verloren: In seinem zentralen Monolog erinnert Sick Boy daran, dass der entscheidende Aspekt der Pornoproduktion die Vortäuschung universeller Verfügbarkeit der Ware Sex für den männlichen Konsumenten ist. Und für die Frau?

Der Markt verspricht ihr die totale Befriedigung. Aber sehnt sie sich wirklich nach maschinell induzierten Orgasmen, Sci-Fi-Sextoys und brummenden Häschenohren? Ist ein dergestalt verdinglichtes Begehren (pun intended!) wirklich das, was sie will? Es ist wohl lediglich ein weniger furchteinflößendes, weil in Produktwelten eingehegtes Begehren, das sich obendrein krampfhaft an den Warenfetisch als Ersatzobjekt klammert. Kommen als Industrieprodukt? Oh my God, no!

Marlen Hobrack studiert im Masterstudiengang Kultur- und Medienwissenschaften, nachdem sie zuvor einige Jahre in einer Unternehmensberatung gearbeitet hat. Derzeit schreibt sie an einem Social-Media-Roman. Sie lebt mit ihrem Sohn in Dresden und ist Gastautorin bei "10 nach 8".


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