10 nach 8: Ana Ofak über Burning Man

 
Wenn dieser Newsletter nicht richtig angezeigt wird, klicken Sie bitte hier.

 

15.09.2017
 
 
 
 
10 nach 8


Delirium ist keine Option
 
Kann in der Wüste von Nevada eine Utopie zur Wirklichkeit werden? Auf dem Burning-Man-Festival wird nicht nur gefeiert. Hier werden alternative Lebensmodelle erprobt.
VON ANA OFAK

Camp Morning Wood im Sonnenuntergang © PC Valmorbida
 
Camp Morning Wood im Sonnenuntergang © PC Valmorbida
 
 

Beim Überfliegen des Pyramid Lake in Nevada zuckt ein einzelner Blitz durch die Wolkenmasse am Horizont. Das beryll-farbene Gewässer leuchtet für den Bruchteil einer Sekunde auf. Bei mir prägt sich ein Landschaftsbild ein, das wie mit einem Surrealismusfilter bearbeitet alle Farben und Formen in eine Spirale der Verschmelzung drapiert. Ich muss an das Gemälde Pyramid Lake von Max Ernst denken, das an den Ufern des Gewässers entstand.  

Wenig überrascht es mich jetzt, dass der Maler 1946 seine Vagabundreisen durch die USA in der Wüste von Nevada auf Stand-by gesetzt hatte. Damals legte er die Landschaft in surrealistischer Manier als eine Mirage des Unterbewussten aus, die zwischen den Felsenformationen und feenartigen Wasserspiegelungen eingefangen war. Heute ist sie eine instagramtaugliche Inszenierung. Eine gefälligere Einstimmung meiner Sinne auf das, was um die Ecke vom Pyramid Lake liegt, war nach diesem Moment jedenfalls schwer vorstellbar. Denn sensorisch verzerrend – so versprachen es die Bildermassen, die ich im Netz unter dem Stichwort Burning Man fand – soll es ohnehin sein.  

Enthusiastischer Wille

Der Pyramid Lake liegt etwa 60 Meilen nördlich von der Stadt Reno und somit auf halber Flugroute nach Black Rock City. Trotz ihres Namens ist Black Rock City nur bedingt eine Stadt. So wie auch Burning Man, seit 1990 die Daseinsform der temporäreren Gemeinde, wenig mit einem Festival zu tun hat. Jedes Jahr lassen sich nahezu 70.000 Besucher auf dem Gelände für eine Woche nieder. Die Besucherzahl mag niedriger als die vom Glastonbury Festival sein. Das Ausmaß an enthusiastischem Willen, der Burning Man entgegengebracht wird, erinnert jedoch vielmehr an Wallfahrtsorte wie Lourdes. Die Besucher bauen nicht nur selbst Camps mit Wohnmobilen und Zelten auf. Sie erproben alternative Lebensmodelle wie Gaben anstatt Geldhandel, halten Workshops zur Bewältigung von Septum-Piercing-Traumata ab oder veranstalten schlicht die Party ihres Lebens. Jede Nacht. 

Auf dem Gelände gibt es kein Wasser, keinen Empfang, keinen Strom und keine Kanalisation, so dass die gesamte Versorgungsarchitektur von den Besuchern mitgebracht werden muss. Die Vorbereitungen dauern Monate. Wenn man sich entscheidet, eine Veranstaltung anzumelden oder an der Kunsterzeugungsschlacht von Burning Man mit seiner Art teilzunehmen, noch viel länger. Art, das sind gigantische Holzskulpturen und selbstgebastelte Fuhrwerke, deren Herstellung schnell zum Jahresinhalt werden kann. Eine Annäherung an Art sei hier über einen geschmackssicheren Umweg empfohlen, nämlich Henning Fehrs und Philipp Rührs Festival Sculptures von 2016. Mein Pilgern zum Black Rock City blieb jedenfalls ein einziger Antizipationsfluss, der in ein Wunder zu münden versprach. 

Systemische Skurrilitäten

Aber auch Wunder müssen verwaltet werden. So unterhält die Black Rock City LLC, die gewinnorientierte Körperschaft hinter Burning Man, eine ausgefeilte Bürokratie: ein Genehmigungssystem für Camps, eine Personenmeldestelle, einen Notdienst und jene Black Rock Rangers, die für öffentliche Sicherheit und die Kanalisierung von unbehaglichem Benehmen unter Extrembedingungen zuständig sind. Als Polizei ohne Polizeibefugnisse spiegeln die Ranger die systemischen Skurrilitäten von Burning Man optimal wider. Sie können das Urinieren in freier Natur mit 175 Dollar ahnden, aber niemanden verhaften. Zugleich müssen sie zusehen, dass Teilnehmer piss clear bleiben: ein Ausdruck, der sich auf das Aushebeln der Balance zwischen Flüssigkeitszufuhr und Stoffwechselproduktabgabe in der Wüste bezieht. Dass dies alles die Besucher nichts kosten soll, wird ganz organisch beim Bezahlen der Tickets widerlegt. Diese sind innerhalb von Sekunden nach Verkaufsstart vergriffen. Es ist nicht unüblich, mehr als das Doppelte auf dem Schwarzmarkt zu zahlen, also etwa 1.000 Dollar pro Person. Und das nur für den Zutritt zum Gelände.

Im Grunde basiert die Idee von Burning Man auf einer Ausweitung sozialbekömmlicher Grenzen der Fürsorge. Und der Sorge um das Dabeisein. Alle sind für alle da, während jeder zuguckt, dass er allein zurechtkommt. Ich bin schnell geneigt, die Burnerphilosophie für eine paradoxe Form von Altruismus zu halten, die nur gepaart mit Egoismus funktionstüchtig bleibt. Fragt sich, worin da die Fürsorge verankert ist? Die paraökonomischen Grundpfeiler von Burning Man schlagen vor: in der Freiwilligenarbeit, Selbstversorgung, radikalen Outdoor-Ethik und geldlosen Ökonomie. Mit anderen Worten steuern Burner Mehrwerte zugunsten der Erlangung andere Mehrwerte bei. Geld geht in der Gabe auf, Lebensstandards in Überlebenstaktiken, Naturschutz in extremen Naturabenteuern und Zeit im Zeitvertreib. Statt des Lebens versucht man sich im übertragenen Sinne im Überleben.

Aber wer kann sich diesen Mehrwerte-für-Mehrwerte-Betrieb leisten? Klar gibt es die realexistierende Masse an Gegenkulturenthusiasten, die bei Minimalkomfort für eine Woche waschechte Nächstenliebe praktiziert. Doch scheint sich Burning Man immer mehr um die ein Prozent zu drehen. Letztes Jahr landete ein Privatjet auf dem Flugplatz von Black Rock City. Ein solches Display an Reichtum ist schwer zu ignorieren. Spätestens ab diesem Zeitpunkt verschoben sich die Standards dessen, was ich gerade Überleben genannt habe: Sie wurden schneller, höher und um die Komponente der totalen Ausdehnung von Machbarkeit erweitert. Ein Beispiel ist der Stromverbrauch. Wo früher eine Klimaanlage für Hochverrat gehalten wurde, zuckt heute keiner mit der Wimper beim Anblick von 500-Liter-Kühlschränken und klimatisierten Kostümschleppern.

Beschleunigt bis zur Besinnungslosigkeit

Ist damit die Idee obsolet geworden? Keinesfalls. Auch wenn der Einzug des Silicon Valleys in Black Rock City gern als Gentrifizierung der Wüste stilisiert wird, ist das Argument einer Käuflichkeit der Utopie so frisch wie Männer in Tutus am Tutu-Tuesday des Burning Man. Das Eingeständnis, dass wir es mit einem Konzentrat unserer Hochkulturkatastrophe zu tun haben, und dass Burning Man gemäß Max Ernst durch das Unterbewusste des Dark-Net-Bürgertums surft, ist gesellschaftspolitisch deutlich folgenreicher. Es setzt voraus, dass alles, was in der Wüste in einer Art fürsorglich gesicherten Umgebung vonstatten geht, einen verdichteten Parcours des Alltags in einer jeden Megapolis dieser Welt darstellt. Demnach ist auch jeder Bürger im Kleinen ein Burner: ständig auf Draht, dauerverfügbar für Extremeinsätze, auf Totalmissbrauch eigener Kapazitäten eingestellt. Dieser Nukleus unserer prekären Existenz wird in der Wüste bis zur Besinnungslosigkeit beschleunigt. 

Neuronales Feintuning

Wen interessieren aber Tutus und Internet-Tycoons, wenn Deep Playa einem Funpark gleicht, bevölkert von "Krass, was-auch-immer-du-willst"-Attitüde bedienenden, an post-sowjetischer Depression leidenden und auf Onewheel-E-boards gleitenden Hasardeuren? Deep Playa, das ist der endlos erscheinende, unbebaute Teil der Black Rock City. Dort verlagert sich die Sorge um sich und andere nicht selten in das Molekulare, während sich Zusammengehörigkeitsgefühle als ein Effekt der richtigen Einstellung chemischer Substanzen darbieten. Online geht man in sich selbst und zusammen tanzt man allein. Delirium ist keine Option. Vielmehr wird hier synthetische Intelligenz wie sie William Gibson in seinem Roman Newromancer von 1984 – dem Gründungsjahr von Burning Man in San Francisco – imaginiert hat, von Fiktion zur Technik des neuronalen Feintunings. 

Endloser Humor, Schnelligkeit, Präzision und Gleichgültigkeit, die mit dem Feintuning einhergehen, sind Attribute, die sowohl erhöhtes Auftrittsbewusstsein als auch ein Durchhaltevermögen in prekären sozialen Verhältnissen ermöglichen. Kein Wunder, dass auf solchen Gleitfahrten durch Deep Playa keine Fotos geschossen werden. Nur Drohnen dürfen wie Wachhunde zuschauen. Überhaupt bietet Deep Playa dankbare Metaphern für die kollektive Verfassung unserer Kataklysmengegenwart dar. Allerdings ist ihre aufgesprungene, verbrannte Erde nicht mehr eine davon. 

Eher glühende Wolken. Am letzten Abend kumulieren sie über der Skulptur des brennenden Mannes. Nahezu greifbar erkenne ich in ihnen den Schein unserer Sehnsucht und Sorge um das Sein wieder, in dem die Fürsorge für die anderen stets der Sorge um das Selbst weichen muss.

Ana Ofak ist freie Autorin. Seit ihrer Promotion in Kultur- und Medienwissenschaft an der Bauhaus-Universität in Weimar wechselt sie zwischen akademischen und journalistischen Institutionen. Ihre Texte erschienen bei "e-flux", "Art Agenda", "Witte de With" und "Zeitschrift für Medienwissenschaft". Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".


Sie wollen der Diskussion unter dem Text folgen? Hier geht es zum Kommentarbereich.
10 nach 8
 
Frauen schreiben jetzt auch abends. Montags, mittwochs, freitags. Immer um 10 nach 8. Wir, die Redaktion von 10 nach 8, sind ein vielseitiges und wandelbares Autorinnen-Kollektiv. Wir finden, dass unsere Gesellschaft mehr weibliche Stimmen in der Öffentlichkeit braucht. 

Wir denken, dass diese Stimmen divers sein sollten. Wir vertreten keine Ideologie und sind nicht einer Meinung. Aber wir halten Feminismus für wichtig, weil Gerechtigkeit in der Gesellschaft uns alle angeht. Wir möchten uns mit unseren LeserInnen austauschen. Und mit unseren Gastautorinnen. Auf dieser Seite sammeln wir alle Texte, die 10 nach 8 erscheinen.