Das Reich der Rückständigkeit erlebt revolutionäre Zeiten.
In Saudi-Arabien werden Frauen in wenigen Monaten Auto fahren, so wollen es der König und sein ambitionierter Sohn, Kronprinz Mohammed bin Salman. Sie brechen den geheiligten Bann der konservativen Kleriker, zerstören das Symbol für die Unterdrückung der Frau. Es ist eine Entscheidung, die für Frauen weit mehr bedeutet, als nur am Steuer zu sitzen. Sie wird Saudi-Arabien stark verändern, wie viele andere Entscheidungen des Kronprinzen. Fragt sich nur, ob zum Besseren.
Wie passt es zusammen, dass der 32-jährige Kronprinz Teile des
Jemen in die Vormoderne bomben lässt und den Nachbarstaat Katar mit einer Blockade wie von Vorgestern überzieht, aber gleichzeitig das eigene Land der Zukunft öffnet? Wie kann es sein, dass Oppositionelle reihenweise im Gefängnis verschwinden, aber Frauenrechte liberalisiert werden? Saudi-Arabien ist ein Land der Widersprüche, aber wer genau hinschaut, erkennt ein System dahinter.
Die Liberalisierung der Frauenrechte ist ein langer Prozess, den schon der frühere König Abdallah (2005 bis 2015) eingeleitet hatte. Unter ihm wurde das Prinzip der Vormundschaft für Frauen gelockert und das Frauenwahlrecht eingeführt. Damit forderte der König die Konservativen heraus und folgte dem gesellschaftlichen Aufbruch im Land. Ich erinnere mich an zahlreiche Gespräche mit saudischen Frauen in Riad, die Abdallah dafür sehr dankbar waren. Eine von ihnen sagte mir bei einem Abendessen vor eineinhalb Jahren, dass sie selbst schon öfter heimlich gefahren sei und dass das Verbot bald fallen werde.
Nun, Mohammed bin Salman hat es möglich gemacht. Es ist nicht seine einzige Reform. Der Kronprinz hat Saudi-Arabien die Vision 2030 verordnet, ein Riesenpaket von Neuerungen. Er will Staatsapparat, Gesellschaft, Wirtschaft und die Energieindustrie umkrempeln. Saudi-Arabien soll seine Abhängigkeit vom Öl verringern, Teile des weltgrößten Ölkonzerns Saudi Aramco privatisieren, in Klimaschutz, Effizienz und die Ertüchtigung heimischer Arbeitskräfte investieren. Die Reformen gehen stotternd voran, vor Kurzem erst nahm Mohammed Tempo aus den Wirtschaftsreformen. Doch schon heute sind die Mehrheit der Universitätsabsolventen Frauen. Mohammed weiß:
Sie werden gebraucht für die Zukunft des Landes.
Dass es im Land sonst hart zur Sache geht, ist nur ein scheinbarer Widerspruch. Die saudischen Behörden verfolgen die Schiiten im Ostteil des Landes, jede Versammlung, jede kleine Demo wird hart bestraft. Überall im Land gehen auch liberale Blogger und freie Denker ins Gefängnis. Sie teilen ihr Schicksal mit ihren ärgsten Gegnern, islamistischen Klerikern und Bloggern, die gegen die Regierung stänkern. Die wichtigste Opposition in Saudi-Arabien, das wissen viele im Westen nicht, steht rechts vom Königshaus. Es sind die islamistischen Radikalen, die mit dem "Islamischen Staat" und Al-Kaida sympathisieren und den militanten Dschihadismus sponsern. Es sind auch gemäßigtere Islamisten, die in jüngerer Zeit in Rehabilitationsprogrammen für Dschihadisten arbeiteten. Auf sie schlagen die Rechtsorgane ein. Die Maßelle für Verhaftungen ist nicht, ob man besonders liberal oder grimmig islamistisch ist. Entscheidend ist die Haltung zum Königshaus, auf Widerspruch steht schnell der Knast.
Saudi-Arabien wird also nicht liberaler, es wird auf seine ganz eigene Art moderner. Dazu gehört, dass die Saudis nicht mehr Hunderttausende von Pakistanern, Indern und Bangladeschern für sich arbeiten lassen, sondern selbst Stift, Steuer, Tablet oder Kelle in die Hand nehmen. Dazu gehört, dass Frauen nicht mehr aus der Öffentlichkeit gedrängt werden, dass sie Auto fahren sollen (auch damit sie schneller zur Arbeit kommen). Auf höhere Effizienz von Wirtschaft und Gesellschaft kommt es Mohammed bin Salman an, nicht auf die Freiheit als Wert an sich.
Saudi-Arabien, das in der Vergangenheit archaisch und schläfrig wirkte, soll mit dem schnellen Puls in Dubai, New York und Peking mithalten können. Saudi 4.0, das könnte sich in der Mischung aus Modernisierung, Reform und Repression zu einer Entwicklungsdiktatur neuen Typs entwickeln. China unter Präsident Xi Jinping macht es seit einigen Jahren vor. In Saudi-Arabien verlangt so ein Kurs der konservativen Bevölkerung viel, viel mehr ab als in China. Mohammed geht ins volle Risiko. Alles ist drin: historischer Erfolg oder Scheitern und Sturz.