| | © Koen van Weel/ANP/AFP / Getty Images | Ich weiß nicht mehr genau, wie Kuhmilch in mein Leben kam. Ich muss sie schon konsumiert haben, bevor ich mich bewusst dazu entschied, denn ich bin nie gestillt, sondern mit Kuhmilch groß gezogen worden. Meine Mutter gehörte zu der Generation Frauen, die es nicht taten – nicht unbedingt, weil sie sich bewusst dagegen entschied, sondern weil es Ende der 1970er normal war, nicht zu stillen. Ich erinnere mich an den lapidaren Ton, in dem meine Mutter mir diesen Umstand schilderte, die Ratlosigkeit in ihrer Stimme, in der mitschwang, vielleicht doch etwas falsch gemacht zu haben, diesen deutschen Ärzten, deren Sprache sie nicht gut beherrschte, zu sehr vertraut zu haben, aber vor allem ist mir von dieser Unterhaltung eins in Erinnerung geblieben: die lila Tablette. Er gab mir diese lila Tablette, höre ich meine Mutter auf Spanisch sagen. Er, das war unser Hausarzt Dr. Wink, und die lila Tablette war das Medikament, das den Milchfluss stoppen sollte. In meiner kindlichen Vorstellung sah ich Dr. Wink, wie er vor meiner Mutter stand und diese eine lila Tablette überreichte, groß wie ein Fünfmarkstück, und in meiner kindlichen Phantasie ist sie aus Brause, denn so eine große Tablette kann meine Mutter niemals runterschlucken. Meine Generation wurde mit Kuhmilch großgezogen. Auch ansonsten, das heißt in der Erwachsenenwelt, schien Milch als eine Art Wundermittel gegen und für alle/s zu gelten, zumindest wurde uns das so suggeriert. Schon am Morgen auf dem Weg in den Kindergarten grinsten uns von Werbeplakaten riesige Münder mit Milchbärten an, und im Fernsehen lief ein Milchspot nach dem anderen. Strahlend weiße Milch wurde in klare Gläser gegossen, Milchgischt spritzte in Zeitlupe an der Oberfläche hoch, wurde blitzschnell von den Lippen geleckt – ein bisschen wie in schlechten Filmen, wo reiche Männer ihr Zahnfleisch mit Koksresten einreiben –, kein Tropfen durfte verschwendet werden! Frischkäse wurde zentimeterdick auf Vollkornkrusten gestrichen, krachend verschwanden sie in nah aufgenommenen Mündern wunderschöner Frauen, um dort mit an sexueller Lust grenzender Wonne zermahlen zu werden. Auch die Kinder- und Jugendbücher waren voll von frisch abgeschöpftem Sauerrahm, klappernden Milchkannen und Käsesemmeln. Egal ob in Astrid Lindgrens Madita, Tina Casparis Bille und Zottel oder in Enid Blytons Fünf Freunde, überall wurde Milch getrunken. Egal ob auf dem Reiterhof, auf der Felseninsel oder in Bullerbü, überall galt Milch als Lebenselixier, als Gute-Laune-Macher, als Droge gegen Müdigkeit und schlechte Laune, vor allem für Kinder. Im echten Leben mochte ich wie die meisten Kinder keine Milch. Ich ekelte mich vor der Haut, die sich an der Oberfläche bildete, wenn man sie warm machte. Ich verstand nicht, warum sie so schnell schlecht wurde, und ich weigerte mich, sie zu austrinken, nur damit man sie nicht wegkippen musste. Wenn meine Mutter die grauen geronnenen Milchklumpen schließlich doch in den Abfluss schüttete, hielt ich mir immer eine Mandarine unter die Nase. Vor allem aber hasste ich den Geschmack, den die Milch bis tief in den Rachen hinunter hinterließ, dieser Geruch, der manchmal von den Felder rechts und links der Autobahn ins Fahrzeug meines Vaters drang, daran erinnerte er mich, oder anders formuliert: Es schmeckte, als hätte ich Scheiße gefressen.
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