Ich bitte mir nachzusehen, wenn ich heute keinen Kommentar zur Bundestagswahl abgebe. Täte ich es, so müsste ich es tun, ohne die Fakten, die Hintergründe, die Auswirkungen des Wahlergebnisses gebührend geprüft und bedacht zu haben.
Mir ist aber zufällig ein Protokoll der Jahreskonferenz des Politik-Ressorts der ZEIT von Anfang Oktober 1982 in die Hand gefallen – nach der Abwahl
Helmut Schmidts und der Wahl
Helmut Kohls zum Bundeskanzler, einer der größten Zäsuren der bundesdeutschen Geschichte. Ich habe darin Parallelen, Ähnlichkeiten und Unterschiede zur heutigen Situation entdeckt, die manche Leser auch interessieren könnten (damals war ich Chefredakteur der ZEIT). Wer sich nicht dafür interessiert, sollte die Lektüre hier abbrechen.
Ein Thema waren die
Grünen. Die Frage war: Würden sie bei den Neuwahlen im März 1983 zum ersten Mal die Fünfprozenthürde überspringen (
sie taten es mit 5,6 Prozent)? Und wie sollten wir uns zu ihnen verhalten?
Theo Sommer: "Wenn der Wähler die Grünen ins Parlament entsendet, gehören sie auch zum politischen System ..."
Karl-Heinz Janßen: "Wir müssen alles unterstützen, was die Grünen integriert, und alles vermeiden, was sie in die außerparlamentarische Opposition treibt."
Theo Sommer: "Die Regeln der Verfassung müssen eingehalten werden. Neue Gruppierungen müssen im Rahmen des Systems arbeiten. Es stellt sich die Frage, ob das Prinzip der Volksparteien ausgedient hat. Die Volksparteien sind mitschuldig an der Halbherzigkeit der politischen Entscheidungen. Die Jugend will heute Klarheit und Wahrheit. Wie viel 'Weimar' können wir uns leisten?"
Hermann Rudolph: "Stimmungen im Volk sollen sich im Parlament widerspiegeln, nicht jeder Stimmungswandel aber muss direkt durchschlagen. Dagegen sind verfassungsmäßige Sperren eingebaut."
Theo Sommer: "Die Grünen sind noch keine berechenbare Größe. Sie müssen sich erst noch zur parlamentarischen Partei mausern. Wenn die Grünen sich innerhalb des Verfassungssystems bewegen, haben sie unsere Unterstützung. Wir müssen uns die
Parlamentarisierung der Grünen wünschen."
Horst Bieber: "Dort, wo die Grünen mehrheitsbildend sind, wo sie Entscheidungen treffen oder Verantwortung mittragen müssen, findet ihre Integration bisher nicht statt."
Hermann Rudolph: "Die Grünen müssen grundsätzlich gesehen werden. Sie sind ein Symptom für eine in die Krise geratene Politik. Die Ursachen liegen in der Komplexität und Unübersichtlichkeit der Gesellschaft. Die mit dem Auftreten der Grünen sichtbar gewordene Herausforderung der Politik wird uns bis ins nächste Jahrzehnt begleiten."
Das Emporkommen einer Partei war nicht das einzige Thema der Jahreskonferenz, das angesichts des
Durchbruchs der AfD erstaunlich aktuell anmutet. Es ging zum Beispiel um die Entwicklung der Gesellschaft:
Horst Bieber: "Der Weg geht eindeutig in die Ellbogengesellschaft. Die neuen Richtlinien für das Mietwesen beispielsweise könnten streckenweise reine Not erzeugen."
Dietrich Strothmann: "Investitionen, für die jetzt Anreize geschaffen werden sollen, dienen oft ausschließlich der Rationalisierung. Neue Arbeitsplätze werden daher nicht geschaffen."
Gräfin Dönhoff: "Der Mix zwischen Wohlfahrtsstaat und Marktwirtschaft muss neu adjustiert werden."
Horst Bieber: "Bevor ins System eingeschnitten wird, müssen Missbräuche abgeschafft werden."
Theo Sommer: "Wenn etwas sachlich notwendig ist, muss es gemacht werden – egal von wem! Hier darf es keine ideologischen Vorurteile und keine schizophrene Argumentation geben."
"Der Ton in Richtung Osten wird schärfer werden" Auch die Außen- und Sicherheitspolitik kam zur Sprache. Heute geht der Streit um die Aufrüstung auf zwei Prozent des Bruttosozialprodukts. Damals wurde über den Nachrüstungsbeschluss gestritten.
Gräfin Dönhoff: "Die neue Regierung wird nur nach Westen blicken. Der Ton in Richtung Osten wird schärfer werden."
Theo Sommer: "Eine konventionelle Verteidigung ist nicht möglich, es sei denn, man verwandelt die Bundesrepublik in einen Garnisonsstaat."
Christoph Bertram: "An die Regierung muss die Empfehlung gerichtet werden, die Verhandlungen über nukleare Abrüstung voranzutreiben. Unser Drängen muss stärker werden, dass Amerika mit dem Willen zum Erfolg verhandelt."
Gräfin Dönhoff: "Die Zusammenarbeit mit Frankreich könnte schwieriger werden. Da beide Länder unterschiedliche Strategien bei der Lösung der Wirtschaftsprobleme verfolgen, könnten die Probleme eskalieren."
Damals und heute: Es liegt mir fern, gewaltsam Parallelen zu ziehe. Wir leben heute in einer völlig anderen Welt als 1982. Viele neue Themen bestimmen die Tagesordnung. Aber manche Fragen sind
mutatis mutandis noch immer oder schon wieder aktuell. Ob die alten Antworten noch taugen – das könnte Stoff für künftige Kolumnen sein.