10 nach 8: Sabine Horst über Großveranstaltungen

 
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22.09.2017
 
 
 
 
10 nach 8


Wir wollen verklumpen
 
Massenveranstaltungen wie das Oktoberfest haben einen schlechten Ruf: Wie gruselig, alle wollen das gleiche. Was für ein Quatsch! Echter Spaß ist geteilter Spaß.
VON SABINE HORST

Amerikaner entdecken  Alle wollen das gleiche: Besucher des Münchner Oktoberfests © Jörg Koch/Getty Images Zuneigung für Deutschland © Odd Andersen/AFP/Getty Images
 
Alle wollen das gleiche: Besucher des Münchner Oktoberfests © Jörg Koch/Getty Images
 
 

Ein Augustsonntag am Atlantik. Die Franzosen haben Ferien, sie rotten sich an ihren Küsten zusammen. Handtuch reiht sich an Handtuch, der Eisverkäufer hat es schwer mit seinem Wagen. Auf der Parzelle neben mir kämpft ein Vater mit dem Wurfzelt, während die Mutter den kleinen Camille zusammenfaltet, der sich nicht von seiner Sandburg trennen will. Dabei erhebt sich ihre Stimme kaum über das allgemeine Dezibelniveau – das Murmeln einer von der Sonne durchwärmten, vom Rauschen des Meeres weichgespülten Freizeitmenge.

Die jugendlichen Nerds, die im Morgengrauen auf die Kölner Messe zuströmen, sind dagegen hellwach. Es wird noch Stunden dauern, bis die Computerspielmesse Gamescom öffnet. Macht aber nichts. Die Leute siedeln vor den Eingängen, packen Campingstühle aus, spielen Sitzvolleyball. Wenn einer aus der Schlange ausschert, um ein Brötchen zu holen, halten sie den Platz frei.

Der Satz "hier ist es zu voll" hat mir noch nie eingeleuchtet. In dem Moment, in dem man ihn sagt, steht man schließlich selbst im Stau zwischen Freiburg und Basel oder zwischen Engländern und Chinesen auf der Prager Karlsbrücke. Wir werden immer mehr, und alle wollen dahin, wo es schön ist, wo etwas geboten wird. Sicherlich sind das oft Destinationen und Events, die von Zeitschriften, Feuilletons und Reiseveranstaltern hochgejazzt werden. Andererseits ist es aber auch verständlich, dass man mal in einer Stadt wie Venedig gewesen sein will, in der das Licht und die Geräusche ganz anders sind, weil keine Autos fahren. Dass man die Pyramiden, Monets Seerosen oder Depeche Mode "in echt" erleben will – jeder hat doch so seine Sehnsüchte.

Das Phänomen Freizeitmasse gab es schon bei den Römern – die wussten, wie man Brot und Spiele organisiert, im Colosseum konnten 50.000 Zuschauer über 8o Eingänge direkt zu ihren Plätzen gehen. Heute ist längst immer und überall Circus: Die Gamescom hat zuletzt 350.000 Besucher gemeldet, das Oktoberfest zieht regelmäßig zwischen 5 und 6 Millionen an, in den Louvre, das bestbesuchte Museum der Welt, strömen täglich um die 25.000 Menschen. Die meisten dieser Veranstaltungen gehen reibungslos über die Bühne. Trotzdem hat die Masse einen zweifelhaften Ruf.

Am Anfang die Massen

Und dabei muss man gar nicht an die formierten, militarisierten faschistischen Mobs denken, von denen Massentheorien wie die von Elias Canetti oder Klaus Theweleit abgeleitet sind. Auch das Freizeitverhalten der zivilen Menge in der kapitalistischen Ökonomie war früh unter Verdacht geraten. Schon der Stummfilm fand emblematische Bilder für das Verhältnis von Individuum und Masse, die Verflechtung von Arbeit und Amüsement in der Moderne. King Vidors The Crowd von 1929 etwa passte das Drama eines kleinen Angestelltenlebens in zwei berühmt gewordene Sequenzen ein: am Anfang die Massen, die in die himmelhoch getürmten Büroetagen Manhattans strömen, am Ende, fast surreal, eine Zuschauermenge im Kino, Hunderte, die wie ferngesteuert über denselben Witz lachen – so viel schon damals zur Herrschaft der Kulturindustrie.

15 Jahre später, als Horkheimer und Adorno die "Aufklärung als Massenbetrug" beschrieben, folgte jede Freizeitverrichtung dem Takt der Fließbandfertigung, zeugte jeder Disney-Comic vom Tod des Subjekts. Lücken schien es in diesem System nicht zu geben. Hätte Adorno Feierabendtipps ausgegeben, dann wären sie wohl in die Richtung gegangen: zu Hause bleiben, Kafka lesen und Schönberg hören. Wenn wir uns heute aufs Sofa zurückziehen, wartet da aber schon Netflix, und die Stimmen der Vielen twittern um uns – die neuen Medien machen es dem Einzelnen noch schwerer, dem Massenschicksal zu entrinnen.

Also doch lieber rausgehen? Die Entfremdung für sich selbst auf die Spitze treiben, das Ego an der Garderobe abgeben und sich unter die Marionetten der Vergnügungskonzerne, die Konsumopfer, Pauschaltouristen und enthemmten Oktoberfesttrinker reihen? Auf der Wiesn bin ich nie gewesen, hat sich nicht ergeben; Rummelplätze, Freizeitparks, Conventions, Mega-Ausstellungen und "bestbesuchte" Sightseeing-Attraktionen jedoch ziehen mich magisch an. Wenn ich irgendwo neu bin, folge ich den Ausflugsbussen, wenn es Popcorn gibt, muss ich es haben, und wenn ich in einen Massenstau gerate, überkommt mich ein wunderbares Gefühl der Entschleunigung – danke, dass ihr mich ausbremst.

Je größer die Mengen, desto eigenwilliger

Wie vom Mehr-ist-mehr-Leitsatz des Marktes geprägte Produkte – ob Shampoo oder Kaffeemaschine – hat sich auch das Phänomen Freizeitmenge enorm ausdifferenziert. Für jedes Temperament findet sich da eine Option: die ekstatische im Techno-Club, auf dem Open-Air-Festival oder im Stadion, die kontemplative im Museum, die frierende auf dem Weihnachtsmarkt. Und je größer diese Mengen sind, desto eigenwilliger verhalten sie sich. Sie fließen um Absperrungen herum, lagern, wo sie nicht sollen, sickern in die Umgebung, schaffen sich Raum. Wenn Fantum im Spiel ist, entwickelt die Crowd eigene Codes und Umgangsformen: der Moshpit auf dem Heavy-Metal-Konzert, die Gesänge, die Transparente – und ja: die Pyros – beim Fußball.

Sich unter solche Massen zu mischen, heißt immer auch, die Kontrolle abzugeben, zu vertrauen – darauf, dass einem keiner auf die Füße tritt, dass man nicht fallengelassen wird: Das emphatischste Bild dafür sind die Crowdsurfer in den alten Woodstock-Filmen. In der Masse ist nicht nur der Einzelne verletzlich, man kann auch die Massen als Ganze nicht verlässlich schützen – sie sind anfällig für Störungen, schon auf kleiner Flamme. Deshalb ist es besser, wenn man sie auch mal in Ruhe lässt. Klar, dass ein Besuch in Disneys Magic Kingdom zu den kontrolliertesten Massenerlebnissen überhaupt gehört – die Amerikaner sind in der Hinsicht die Römer der Neuzeit.

Aber bevor sie den Fast Pass eingeführt haben, also einen Aufschlag auf den ohnehin horrenden Eintrittspreis, mit dem man sich eine Abkürzung erkauft, war das Anstehen viel entspannter: Vor den Pirates of the Caribbean waren für "ab hier noch zwei Stunden Wartezeit" alle gleich, die Familie in den Badelatschen und die Vuitton-Träger. Solche Tendenzen zur Entdemokratisierung des Massenerlebnisses lassen sich seit Jahren beobachten: von der VIP-isierung der Stadien, die zu Frust auf den Rängen führt, über die Privatisierung der Strände bis hin zum Austern-und-Schampus-Zelt auf dem Wochenmarkt. Deutschland scheint da ein Vorreiter zu sein.

In London zum Beispiel kann man in den großen Museen selbst entscheiden, ob und was man zahlen will – warum kriegen wir das nicht hin? Kürzlich träumte der Präsident der Frankfurter Eintracht davon, Sitzplätze für 12 bis 14 Euro zu verkaufen: "Ich will, dass Elf-, Zwölfjährige ins Stadion gehen und so groß werden wie ich, mit der Kultur im Stadion, mit einer Wurst und einer Cola auf einem Sitzplatz." Das sei aber bei uns nicht zu machen.

Wenn die Besserverdiener nicht mit dem gemeinen Volk Wurst essen wollen, dann sollen sie doch wegbleiben. Überhaupt: "Volk". Massenveranstaltungen können heute noch die Ahnung vermitteln, dass dieser Begriff, lange bevor ihn die Nazis ruinierten, etwas anderes bezeichnete als eine Gruppe von Menschen, die "durch Kultur und Tradition" miteinander verbunden sind: zunächst einfach viele, eine Menschenmenge, später dann die Leute, die nicht qua Titel oder Besitz privilegiert waren.

Die bürgerlichen Demokratien haben für das Volk in diesem Sinn keine große Verwendung mehr. Aber in den Massenerlebnissen, die sie so perfekt inszenieren, ist ein Rest davon aufgehoben: Selbst die beaufsichtigte Freizeitmenge strebt ins Amorphe, Chaotische, Nichtidentische, Klaus Theweleit würde vielleicht sagen – ins Matschige. Müssen wir also behaupten, dass wir "unsere Kultur", unseren Lebensstil gegen Terroristen verteidigen, wenn wir in Paris, Nizza, London, Berlin Großveranstaltungen besuchen? Angesichts der verstärkten Tendenz zur Entmischung von Religionsgemeinschaften, Ethnien, Bildungsschichten und Einkommensgruppen sollte es einfach Orte geben, wo die schwebenden Einzelteilchen der Gesellschaft, die Wirs und Ichs, wenigstens vorübergehend wieder verklumpen können.

Wo "Distinktion" ins Leere läuft, und man Leute trifft, von denen man nichts weiß, außer dass sie Rap mögen, gern Falafel essen und auch keine Idee haben, wie man das blöde Wurfzelt wieder in die Hülle kriegt.

Sabine Horst lebt in Frankfurt, hat als Kulturjournalistin unter anderem für die "Frankfurter Rundschau" gearbeitet und ist seit 2002 Redakteurin bei "epd Film". Nebenbei schreibt sie für DIE ZEIT, "chrismon.de" oder den "Tagesspiegel" über Kino, Fernsehen und alltagskulturelle Themen. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8". 


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