Fünf vor 8:00: Der endlose Krieg - Die Morgenkolumne heute von Theo Sommer

 
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FÜNF VOR 8:00
04.07.2017
 
 
 
   
 
Der endlose Krieg
 
Der internationale Einsatz in Afghanistan dauert nun fast 17 Jahre – und keine Lösung in Sicht. Es ist an der Zeit, sich politisch wieder stärker damit zu befassen.
VON THEO SOMMER
 
   
 
 
   
 
   
So möchte man den Bundestag öfter erleben wie in der Debatte über die Ehe für alle: lebendig, leidenschaftlich, persönlichen Einsichten und Überzeugungen Raum gebend, nicht vom Fraktionszwang zu steriler Abstimmungsautomatik erniedrigt. 38 Minuten lang blitzte bei den Abgeordneten der Ursprung des Begriffs Parlament durch: Es wurde geredet und gerungen, ehe abgestimmt wurde.
 
Warum so nur dann, wenn es um eine bewegende Frage des Lebensstils geht, nicht aber bei Fragen, wo es um Leben und Überleben geht – etwa um die Auslandseinsätze der Bundeswehr? Wann hat der Bundestag das letzte Mal 38 Minuten über Afghanistan geredet?
 
Die Nato hat unlängst beschlossen, weitere Soldaten nach Afghanistan zu schicken. Derzeit stehen dort etwa 12.000 Soldaten, darunter 9.800 Amerikaner. Die Bundeswehr hat ihr Engagement schon letztes Jahr erhöht; die Mandatsobergrenze von 980 Soldaten will die Bundeskanzlerin aber – wohl nicht zuletzt im Hinblick auf die Bundestagswahlen – nicht schon wieder anheben. General John Nicholson jedoch, der amerikanische Oberkommandierende in Afghanistan, sprach im Kongress offen von einem militärischen Patt. Er fordert weitere 5.000 US-Soldaten.
 
USA dürften Aufstockung beschließen
 
US-Präsident Donald Trump hatte als Kandidat angekündigt, den "Islamischen Staat" (IS), der neuerdings auch in Afghanistan Fuß fasst, zur Hölle zu bomben. Im April ließ er Amerikas "mother of all bombs" auf ein Tunnelsystem im Osten Afghanistans abwerfen, die größte nicht atomare Waffe mit einer Sprengkraft von 8,2 Kilotonnen TNT (fast die Sprengkraft der Hiroshima-Bombe). Mehr als ein Knalleffekt kam dabei nicht heraus.
 
Eigentlich hatte Trump mit allem nation building aufhören wollen; andererseits möchte er sich nicht den Verlust Afghanistans ankreiden lassen. Jetzt hat er sich in die Büsche geschlagen: Die Entscheidung, wie es weitergehen soll, hat er den Militärs überlassen. Mit Sicherheit wird das Pentagon einen neuen surge beschließen – also wieder einmal eine Aufstockung der militärischen Präsenz. Manches Anzeichen deutet darauf hin, dass die Mission der US-geführten Koalition erneut über Ausbildung und Beratung der afghanischen Sicherheitskräfte hinaus ausgeweitet wird auf reguläre Kampfeinsätze.
 
Als die Bundeswehr nach dem 11. September Ende 2001 ihren Einsatz in Afghanistan begann, ging es zunächst nur um den Schutz der Regierung in Kabul; 2006 erst wurde ihr die Nordregion als Verantwortungsbereich mit Kundus, Masar-i-Scharif und Faisabad zugewiesen. Dort sollte sie ein stabiles Umfeld für den zivilen Wiederaufbau schaffen und den Aufbau der afghanischen Armee und Polizei unterstützen. Mehr und mehr wurden die Soldaten jedoch in Kriegshandlungen verwickelt. Die deutsche Öffentlichkeit nahm dies lange Zeit hin. Es galt der Satz des SPD-Verteidigungsministers Peter Struck: "Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt." Doch verlor er an Überzeugungskraft, je länger sich der Konflikt hinzog, den man seit Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg "Krieg" nennen durfte.
 
Gewiss hat sich die Lage im Laufe der Zeit verbessert. Von Afghanistan aus wirkt kein Terror mehr in die Welt; die Terroristen haben inzwischen andere Bastionen. Es wurden Straßen, Brücken, Stromleitungen, Kraftwerke und Schulen gebaut – Schulen, die nun an die acht Millionen Schüler besuchen dürfen, darunter 2,9 Millionen Mädchen. Doch ist nicht alles Gold, was glänzt. Die Fernstraßen sind nur zeitweise unter der Kontrolle der Regierung, Elektrizität haben nur 30 Prozent der 32 Millionen Einwohner, des Lesens und Schreibens kundig sind bloß 39 Prozent der über 15-Jährigen, von den Frauen sogar nur 12,6 Prozent. Hinzu kommen die alles durchdringende Korruption, die lähmende Zerstrittenheit der Regierung, die hohe Desertationsrate in Armee und Polizei, die alltägliche Gewalt und die ständig steigende Zahl der Terroropfer.
 
Nach offiziellen amerikanischen Angaben werden 40 Prozent des Landes von den Taliban beherrscht oder umkämpft; dies betrifft ein Drittel der Bevölkerung. Staatliche Verwaltungsstrukturen sind in weiten Gebieten in desolatem Zustand – oder gar nicht präsent, wie in den südlichen Regionen, in denen 70 Prozent des weltweit gehandelten Opiums und Heroins erzeugt werden. Von Stabilisierung kann also keine Rede sein.
 
Gebracht hat keine der Aufstockungen etwas
 
Und nun sollen also ein paar Tausend Soldaten die große Wende bringen. Offenbar haben die US-Militärs nichts aus den früheren Verstärkungsschüben gelernt: zur Amtszeit George W. Bushs 2005 die Aufstockung auf 45.000 und kurz danach 65.000 Soldaten, 2009 – schon unter Obama – die Erhöhung des Kontingents um weitere 30.000, bis im Mai 2011 etwa 100.000 US-Soldaten in Afghanistan standen, mit den Isaf-Truppen der Alliierten insgesamt 130.000. Gebracht hat keine dieser Aufstockungen etwas. Obama zog daraus 2011 die Konsequenz. Abrücken bis Ende 2014 war die neue Order. "Our war in Afghanistan will be over", verkündete der Präsident. Die Sicherheitsverantwortung geht an die Afghanen über. Ab Januar 2017 sollte es nur noch eine embassy presence geben, eine Botschaftswache. So weit ist Obama am Ende dann doch nicht gegangen. Knapp 10.000 Soldaten sind geblieben, um die afghanischen Sicherheitskräfte auszubilden und zu beraten. Werden es nun wieder mehr?
 
Der Krieg in Afghanistan dauert inzwischen bald 17 Jahre. Es ist der längste bewaffnete Konflikt, den die Welt seit dem Dreißigjährigen Krieg erlebt hat. Ein Ende ist nicht abzusehen, und ein Erfolg auch nicht. "Mission accomplished", die großkotzig voreilige Siegesmeldung des George W. Bush im Jahre 2003, wird auch keiner seiner Nachfolger reinen Gewissens je verkünden können. "Bleiben, bis es sicher ist" – das heißt nichts anderes als: ewig bleiben.
 
Ist das wirklich gewollt? Nicht nur die Zahl der gefallenen, verwundeten und traumatisierten Soldaten erschreckt. Auch die Kosten des Unternehmens geben zu denken. Die Amerikaner haben seit 2001 etwa 1.000 Milliarden Dollar für die Kriegsführung ausgegeben, dazu 65 Milliarden für Ausbildung und 120 Milliarden für den Wiederaufbau. Die Bundesregierung bezifferte die Kosten des Afghanistan-Einsatzes bis 2015 auf 8,8 Milliarden Euro, plus 4,3 Milliarden für Entwicklungshilfe. Genaue Angaben sind schwer zu ermitteln. Rund eine Milliarde Euro jährlicher Kriegskosten scheinen realistisch, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) rechnet gar mit 2,5 bis 3 Milliarden Euro.
 
Allenfalls eine politische Lösung
 
Seit die Nato 2003 die Führung des Afghanistan-Unternehmens Enduring Freedom übernahm, hatten zwölf US-Generale das Oberkommando. Fast jeder verfolgte seine eigene Strategie, besonders McChrystal und Petraeus. Notgedrungen mussten die Alliierten mitziehen. Erfolg hatten sie alle nicht. Auch aus diesem Grund darf man dem neuen Ansatz des Pentagons Skepsis entgegenbringen. Warum sollte mit 15.000 Mann funktionieren, was mit 130.000 nicht funktioniert hat? Weshalb sollte die Stabilisierung Afghanistans gelingen, die in 16 Jahren nicht gelungen ist? Warum sollte die afghanische Armee (die rund 1.000 Generale auf ihrer Gehaltsliste hat!) verlässlicher und schlagkräftiger werden? Und wieso sollte plötzlich die Korruption verschwinden, wenn der Westen sie weiter mit Milliarden speist?
 
Ich habe da tiefe Zweifel. Mir scheint, wir haben in Afghanistan das Ende der Fahnenstange erreicht. Es wird dort keine militärische Lösung geben, allenfalls eine politische Lösung durch Verhandlungen mit den Aufständischen – auch wenn dabei wohl nur ein Taliban-light-Arrangement herauskäme.
 
Natürlich würde ich mich fügen, wenn eine Mehrheit des Bundestages es anders sähe. Doch wenn wir wirklich für ewig bleiben wollen, sollten unsere Abgeordneten sich die Zeit nehmen, dies vor der Öffentlichkeit und vor ihrer Parlamentsarmee zu begründen. Wenigstens die 38 Minuten, die sie der Ehe für alle gewidmet haben, aber gerne auch mehr.
   
 
   
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Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.