Fünf vor 8:00: Warten auf die Inflation - Die Morgenkolumne heute von Mark Schieritz

 
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FÜNF VOR 8:00
28.07.2017
 
 
 
   
 
Warten auf die Inflation
 
Vor fünf Jahren verkündete EZB-Chef Draghi das gewaltige Programm zur Rettung der Eurozone. Die Horrorszenarien deutscher Ökonomen sind ausgeblieben. Warum irrten sie?
VON MARK SCHIERITZ
 
   
 
 
   
 
   
Thilo Sarrazin ist für seine starken Sprüche bekannt, zum Beispiel für diesen hier: "Wenn wir innerhalb der nächsten zehn Jahre keine starke Inflation bekommen, gebe ich mein Diplom als Bonner Volkswirt zurück und bin bereit, alles neu zu lernen." Das sagte der ehemalige Bundesbankvorstand im Dezember 2012. Wenige Monate zuvor hatte Mario Draghi, der Präsident der Europäischen Zentralbank, in seiner inzwischen berühmten Frankfurter Rede angekündigt, "alles" zu tun, um den Zusammenhalt der Währungsunion zu sichern – und kurz darauf ein gewaltiges Programm zum Ankauf von Staatsanleihen aufgelegt.
 
Ziemlich genau fünf Jahre ist das her, und mit der Inflation verhält es sich wie mit der Figur des Godot aus dem gleichnamigen Drama von Samuel Beckett: Alle warten, aber sie kommt einfach nicht. Und auch sonst steht es um den Euro und die europäische Währungsunion nicht so schlecht: Die Arbeitslosigkeit geht zurück, die Wirtschaft wächst und selbst den Griechen geht es besser – jedenfalls sind private Investoren wieder bereit, ihnen zu annehmbaren Zinsen frisches Geld zu leihen.
 
Wenn sich Draghis Rettungsaktion nun zum fünften Mal jährt, dann ist das vielleicht eine gute Gelegenheit, die Frage zu stellen, warum sich die Untergangsszenarien der meisten deutschen Ökonomen – Sarrazin sprach ja nur aus, was viele deutsche Wirtschaftswissenschaftler dachten – nicht bewahrheitet haben. Oder anders gesagt: Vielleicht hat Draghi damals einfach etwas begriffen, was der geballte wirtschaftswissenschaftliche Sachverstand in Deutschland übersehen hat beziehungsweise nicht sehen wollte.

Nämlich, dass die Zentralbank nur eingesprungen ist, weil die privaten Banken durch die Krise gelähmt waren und deshalb die Wirtschaft nicht mehr mit Geld versorgen konnten. Deshalb ist übrigens auch die Menge des insgesamt umlaufenden Geldes (für Spezialisten: die so genannte Geldmenge M3) trotz der milliardenschweren Rettungsprogramme der EZB in den vergangenen Jahren kaum gestiegen, sondern zum Teil sogar gesunken. Und auch deshalb gibt es bislang keine Inflation.
 
Dass das Versprechen, im Zweifel die Anleihen von Krisenstaaten zu kaufen, um so das Zinsniveau in diesen Staaten zu senken, letztlich dem Ziel diente, die außer Rand und Band geratenen Finanzmärkte zu zähmen. Denn wenn sich Investoren erst einmal auf ein Land einschießen und ihr Geld abziehen, dann ist die Gefahr groß, dass sie damit genau das Ereignis herbeiführen, das sie eigentlich fürchten: die Staatspleite.
 
Oder dass es in Deutschland nicht nur Sparer gibt, deren Geld sich wegen der niedrigen Zinsen nicht mehr vermehrt. Sondern auch Aktionäre und Immobilienbesitzer, die derzeit den Gewinn ihres Lebens machen. Oder einen Staat, der in den vergangenen Jahren durch die Niedrigzinsen nach Berechnungen der Bundesbank 240 Milliarden Euro eingespart hat – und auch deshalb deutsche Mütter mit zusätzlichen Rentenpunkten beglücken konnte, deutsche Kommunen mit zusätzlichen Milliarden für Straßen und Schulen und demnächst wahrscheinlich deutsche Steuerzahler mit deutlichen Entlastungen.
 
Godot kam bis zum Ende des Stücks nicht – und die Mega-Inflation?
 
Das bedeutet nicht, dass Draghis Kurs unproblematisch wäre. Die EZB ist bis an die Grenze ihres Mandats gegangen und vielleicht auch darüber hinaus. Aber während die meisten deutschen Ökonomen darauf vertrauten, dass das freie Spiel der Marktkräfte am Ende das Problem schon lösen werde, hat der EZB-Präsident erkannt, dass der Markt in jenen kritischen Wochen dabei war, sich selbst zu zerstören – und Europa gleich mit.
 
Keine Frage: Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Vielleicht geht alles schief. Vielleicht muss Italien Konkurs anmelden, wenn die Zinsen wieder steigen. Vielleicht brechen die Banken unter der Last ihrer faulen Kredite zusammen. Vielleicht kommt sogar irgendwann doch noch die große Inflation.
 
Aber es könnte eben auch sein, dass die Währungsunion gerade dabei ist, ihre bislang größte Krise hinter sich zu lassen. Italien hat bislang immer einen Weg gefunden, mit seinen hohen Schulden zurecht zu kommen – und wie Jeromin Zettelmeyer und Olivier Blanchard vom Peterson Institute for International Economics zeigen, würde ein moderater Zinsanstieg das Land nicht umwerfen. Wenn die Wirtschaft wieder besser läuft, dann sinkt auch das Volumen der faulen Kredite, weil mehr Schuldner ihre Darlehen bedienen können.
 
Und was die Inflation angeht: Wir werden es sehen, Godot ist bekanntlich auch am Ende des Stücks noch nicht erschienen. Thilo Sarrazin jedenfalls hat nur noch fünf Jahre. Wenn die Preise bis dahin nicht nach oben geschossen sind, muss er sich wohl wieder bei der Universität Bonn einschreiben.
 
   
 
   
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