Kiyaks Deutschstunde: Jede Lächerlichkeit ein zündender Einfall

 
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Kiyaks Deutschstunde
27.07.2017
 
 
 
 
Was meinen Politiker, wenn sie sagen, was sie sagen? Und: Was meinen sie wirklich? Mely Kiyak sagt’s Ihnen!


Jede Lächerlichkeit ein zündender Einfall
 
Wahlkampf ist albern geworden: Kurz vor einer Wahl wollen Parteien also mitteilen, wer sie wirklich, wirklichwirklich sind. Sie hatten doch vorher genug Zeit dazu.
VON MELY KIYAK

Martin Schulz gab neulich in der Bild am Sonntag bekannt, dass er ein neues Wahlkampfthema gefunden habe. Nämlich die Flüchtlingspolitik. Natürlich hat er das nicht so gesagt. Niemand begründet politische Ziele im Wahlkampf mit Wahlkampf. Aber alles, was zwei Monate vor einer Bundestagswahl gesagt, versprochen, verhandelt wird, findet statt, weil Wahlkampf ist. Denn wäre einer Partei mit Regierungsbeteiligung ein Thema besonders wichtig, hätte sie es ja vorher schon umsetzen oder wenigstens Vorschläge liefern können. 
 
An diesem Donnerstag will Martin Schulz den italienischen Ministerpräsidenten Paolo Gentiloni treffen, um sich mit ihm zu beratschlagen. Oder so zu tun, als würde er sich mit ihm beratschlagen. Denn was Martin Schulz als Lösung für die Flüchtlingsfrage vorschlägt, ist nämlich ganz pfiffig, weil die SPD dafür nichts tun muss. Es geht darum, dass diejenigen europäischen Partner, die keine Flüchtlinge aufnehmen, Geld dafür bekommen sollen, welche aufzunehmen. Die Idee kam Schulz jetzt. Ist gerade alles super akut. Italien beklagt ja auch erst seit Jahren mangelnde Solidarität.
 
In dem Interview wie auch später bei den Tagesthemen fielen dann Begriffe wie "hochbrisant", "dramatisch". Also alles ganz wichtig, die SPD eilt jetzt wie ein Notfallwagen zum Unfallort.
 
Nur noch eine Frage des Spiels
 
Seit dem Interview diskutieren die Kollegen in den Zeitungen die Frage, ob Schulz nicht einen Fehler begehe, in dem er ausgerechnet die Flüchtlingsfrage zum Thema mache. Das ist sehr seltsam. Seit Sommer 2015 wird in diesem Land über kaum etwas anderes mehr gesprochen als über die Flüchtlingsfrage. Und nun soll es riskant sein, ein Thema aufzunehmen, über das Tag und Nacht gestritten wird?
 
Wenn die Flüchtlingsfrage in den politischen Programmen nur eine Nebenrolle spielt, und das tut sie eigentlich, entspricht die Aussage der Parteien eigentlich dem, was man auch als ganz gewöhnlicher Bürger in seinem Alltag feststellen kann. Wer es nicht darauf anlegt, kommt mit keinem einzigen der 890.000 Geflohenen, die seit Sommer 2015 in Deutschland sind, in Kontakt.
 
Doch über allem, also noch über der Frage, ob und wie die Angelegenheit der Flüchtlinge zu behandeln, ob sie sehr, halb- oder gar nicht dringlich ist, schwebt noch etwas anderes. Nämlich, dass es völlig normal geworden ist, dass Parteien in Deutschland maximal drei Monate vor einer Wahl ihre Parteitage veranstalten und ihre Wahlprogramme und Plakate veröffentlichen. Sie stecken eine wahnsinnige Energie in Werbestrategien, um gewählt zu werden. Und es ist ihnen wichtig, dass man ihnen das nicht ansieht. Man soll schließlich nicht merken, dass es bloß noch um die Frage geht, was man machen muss, um gewählt zu werden, statt darum, was man verändern muss, um dem Land gut zu tun.
 
Ist Politik zu betreiben eigentlich so beliebig geworden, dass es eine Frage des Spiels ist, welche Strategien man verfolgt? Ist es eigentlich die Aufgabe von Parteien, dass sie sich für Geld ausdenken lassen müssen, wofür sie stehen wollen? Lächerliche acht Wochen vor einer Wahl will man der Wählerschaft mitteilen, wer man ist?
 
Wahlkampf ist zu einem Sport verkommen
 
Man stelle sich ein Gedankenexperiment vor. Nehmen wir an, es gäbe ein Gesetz, das allen Parteien sechs Monate vor einer Wahl verbietet, das Parteiprogramm zu ändern und Werbekampagnen zu starten. Eine Art "rien ne va plus" vor der Wahl. Also die totale Karenz. Keine Talkrunden, kein Interviewquatsch mit vier Moderatoren, dieser ganze inszenierte Firlefanz, nichts davon.
 
Wofür steht eine Partei wie die CDU dann noch? Oder die Grünen? Wahrscheinlich würden auch Parlamentsdebatten anders laufen. Wahrscheinlich würde in Interviews anders und konkreter gesprochen. Wenn man weiß, dass man ganz am Ende die Quittung für jede schlechte Rede bekommt, reißt man sich dann nicht vier Jahre am Stück am Riemen?
 
Jeder Mensch, der sich halbwegs professionell mit Politik beschäftigt oder darüber berichtet, nimmt es als völlig selbstverständlich hin, dass mal eben so halbherzig ein Thema aus dem Hut gezaubert wird. Ist es nicht hochnotpeinlich, dass eine Partei, die in der Regierung sitzt und die Kanzlerin für ihre Flüchtlingspolitik Dutzende Male lobte, seinen Kanzlerkandidaten vorschickt, damit dieser acht Wochen vor einer Wahl nun doch findet, dass die Kanzlerin falsch gehandelt hätte? War es nicht Vizekanzler Sigmar Gabriel, der mit einem Refugees-Welcome-Button auf der Regierungsbank saß? Und auf einmal sollen die Flüchtlinge  "relativ unkontrolliert eingewandert" sein? Das "relativ" soll nämlich genau das sagen. "Wir finden, dass im Prinzip alles richtig lief, aber jetzt dürfen wir das nicht mehr so sehen, denn die SPD taumelt am Abgrund und die Idee mit dem Gerechtigkeitsslogan hat auch nicht gezündet". Oh Mann. 
 
Es ist wirklich verrückt, wie erwachsene Menschen versuchen, sich gegenseitig zu verjuxen. Die Parteien probieren es, wie abgelegte Geliebte es auch tun, mal mit dieser, mal mit jener Frisur. Hauptsache, man landet noch einmal, egal wie.   
 
Wahlkampf ist zu einem Sport verkommen, man kann es wirklich nicht anders sagen. Die FDP macht einen auf Modestrecke. Der CDU fällt außer Eskalation und weinerlichem "Ich verlasse jetzt die Talkshow" sowieso nichts ein. Die SPD verzweifelt daran, dass sie einfach für nichts ist. Und die AfD streitet sich darüber, ob Petrys Baby auf dem Wahlplakat zu weit gehe. Und die Linke, ach, hatten wir schon letzte Woche.
 
Schade, dass es keine Partei gibt, der man einfach vier Jahre am Stück glauben darf, dass sie das, was sie sagt, wirklich so meint. Egal, ob man damit einverstanden ist oder nicht. Einfach nur vier Jahre am Stück für eine ganz bestimmte Politik sein. Und nicht kurz noch irgendeine Lächerlichkeit als zündenden Einfall verkaufen. Es scheint Parteien einfach schwer zu fallen, einen politischen Standpunkt zu vertreten. Weil ihnen vor lauter Umfrageinstitutsabhängigkeit, Kommunikationswerbeagenturenwahnsinn und Twitterei im Sekundentakt die Muße abhanden gekommen ist, sich darauf zu verständigen, welche Meinung sie dauerhaft vertreten.


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