Fünf vor 8:00: Italien schafft das nicht allein - Die Morgenkolumne heute von Theo Sommer

 
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FÜNF VOR 8:00
18.07.2017
 
 
 
   
 
Italien schafft das nicht allein
 
Flüchtlinge, die es über das Mittelmeer schaffen, kommen vor allem in Italien an. Das Land ruft völlig zu Recht nach europäischer Hilfe, aber es wird im Stich gelassen.
VON THEO SOMMER
 
   
 
 
   
 
   
Die Flüchtlingskrise hört nicht auf. Wir spüren derzeit wenig davon, denn es kommen nicht mehr Zigtausende über die deutschen Grenzen. Die Migranten haben sich neue Wege und andere Ziele gesucht, seit die Balkanroute verschlossen ist und die Türkei ihr Weiterziehen nach Westen unterbindet. Während sich die Flüchtlingsbewegung vor zwei Jahren über die Ägäis nach Österreich, Deutschland und Schweden zog, starten die Migranten jetzt aus Libyen über das Mittelmeer nach Italien.
 
Und wie die Österreicher, die Deutschen und die Schweden 2015 vom Rest Europas alleingelassen wurden, so lässt Europa 2017 die Italiener schnöde im Stich.
 
Im vergangenen Jahr hat Italien 181.000 der Elenden aufgenommen. In diesem Jahr waren es in den ersten sechs Monaten bereits 85.000; zuweilen wurden binnen 24 Stunden an die 12.000 Menschen aus dem Meer geholt. Weitere 2.300 haben auf See nur noch ihren Tod gefunden (2015: 3.175; 2016: 4.500).
 
In Italien leben gegenwärtig rund 200.000 Flüchtlinge. Das Land wähnt sich am Limit seiner Aufnahmefähigkeit. Die Regierung schreit nach europäischer Hilfe. Sie macht den Hilfsorganisationen, die 35 Prozent der Geretteten aus dem Wasser gezogen haben, den Vorwurf, sie erzeugten mit ihren Rettungsaktionen einen Sog; da sie Menschen, die auf miserablen Schlauchbooten in Seenot geraten, zu dicht an der libyschen Küste aufnehmen, richteten sie im Effekt einen Shuttleservice zum italienischen Festland ein; sizilianische Behörden unterstellen ihnen sogar Zusammenarbeit mit den Schleuserbanden. Rom droht, die italienischen Häfen für die Rettungsschiffe der NGOs zu sperren und verlangt nachdrücklich eine Umverteilung aller ankommenden Migranten. Außerdem will es die Verlängerung der EU-Rettungsoperation Sophia blockieren, die am 27. Juli fällig wird.
 
Das Unternehmen Sophia – benannt nach einem somalischen Mädchen, das am 24. August 2015 an Bord der Fregatte Schleswig-Holstein zur Welt kam – verfügt über sieben Schiffe, ferner über Hubschrauber und Flugzeuge und Aufklärungsdrohnen. Sein Auftrag ist es, zwischen der italienischen und libyschen Küste Menschenschmuggel zu unterbinden, die Menschenhandelsnetzwerke zu zerschlagen, Schleuserboote aufzubringen und zu zerstören; außerdem soll Sophia die libysche Küstenwache und Marine ausbilden.
 
Der EU-Ausschuss des britischen House of Lords hat am 4. Juli eine vernichtende Bilanz der bisherigen Sophia-Tätigkeit gezogen. Die wesentlichen Kritikpunkte:
 
Sophia hat es nicht geschafft, "das Geschäftsmodell des Menschenschmuggels und Menschenhandels im südlichen Mittelmeer zu zerschlagen". Die illegale Migration auf der Route Libyen–Italien hat 2016 um 18 Prozent, in der ersten Hälfte 2017 um weitere 19 Prozent zugenommen.
 
"Eine Marinemission ist das falsche Instrument, um mit illegaler Zuwanderung fertig zu werden, die an der Küste beginnt: Wenn die Boote erst einmal losgefahren sind, ist es zu spät, den Menschenschmuggel zu verhindern."
 
"Die politischen und sicherheitsmäßigen Umstände in Libyen werden sich kaum ausreichend verbessern, um EU-Operationen zu Lande in nächster Zeit zu gestatten. Wir sehen daher wenig Sinn darin, das Sophia-Mandat in der gegenwärtigen Form über den Juli 2017 hinaus zu verlängern."
 
 "Die EU sollte die Planung einer Mission zur Bekämpfung der Massenmigration an Libyens Südgrenze aufnehmen und für deren Umsetzung sorgen, sobald es die politischen Umstände und die Sicherheitslage in Libyen erlauben."
 
"Unterstützung der wirtschaftlichen Entwicklung und der guten Regierungsführung in den Herkunftsländern ist der beste Weg, das Thema Massenmigration langfristig anzugehen."
 
Die Analyse der Lords trifft ins Schwarze. Allerdings bringt uns das bloße Nichtstun auch nicht weiter. Vielmehr muss die Europäische Union sich endlich zu einer Harmonisierung ihrer Flüchtlingspolitik aufraffen.
 
Sie braucht, um mit dem Einfachsten anzufangen, einen Verhaltenskodex für die staatlichen wie für die nicht staatlichen Rettungsorganisationen im Mittelmeer.
 
Sie darf den Schutz ihrer Außengrenzen nicht länger den 1.500 Mitarbeitern von Frontex überlassen. Frontex muss zu einer möglichst lückenlosen Grenzschutzorganisation ausgebaut werden, deren Mandat auch Rettungsaktionen einschließt; dann brauchte es keine Sonderaktionen à la Sophia mehr. Bis dahin jedoch empfiehlt sich eine Verlängerung.
 
Dringlich ist eine Einigung auf einen gemeinsamen Umverteilungsschlüssel. EU-Mitgliedstaaten, die sich dem verweigern, sollten in Zukunft mit finanziellen Einbußen rechnen müssen.
 
Eine Harmonisierung des Asylrechts sollte die Gleichbehandlung politischer Flüchtlinge verbürgen. Die Regelung ihrer allgemeinen Einwanderungspraxis könnte dann den einzelnen Ländern überlassen werden.
 
Schließlich muss die Europäische Union Wege finden, in dem in Anarchie versinkenden Libyen on shore einzugreifen – zum einen, um sich die militärische Kontrolle über den Küstenstreifen zu sichern, von dem aus die Schleuser die Migranten losschicken; zum anderen, um Libyens südliche Wüstengrenze zu überwachen, der Schleusermafia schon dort das Handwerk zu legen und die Asylverfahren bereits weit entfernt von Lampedusa oder Sizilien in der Sahara abzuwickeln. Auch dies wird ohne den Einsatz von Militär schwerlich zu machen sein, so sehr dieser Gedanke einem auch widerstreben mag.
 
Vage und karg dotierte Projekte wie der viel beredete "Marschallplan für Afrika" werden uns einer Lösung schwerlich näher bringen. Afrika droht eine Bevölkerungsexplosion: Die Zahl der Afrikaner wird sich bis 2050 mehr als verdoppeln, auf 2,5 Milliarden, und es stehen dort bereits Millionen potenzieller Migranten in der Warteschlange. Diese Aussicht verlangt ganz andere Dimensionen europäischen Entgegenkommens und europäischer Zusammenarbeit, aber auch der druckvollen europäischen Einwirkung auf die Führungseliten des Kontinents, endlich mit der good governance ernst zu machen. "Deutschland kann unmöglich diese gewaltige Masse an Menschen aufnehmen", hat der Microsoft-Gründer Bill Gates, der Milliarden für die Ausrottung von Krankheiten in Afrika ausgibt, kürzlich der Welt erklärt. Gates hat recht. Europa kann es auch nicht.
 
Zunächst einmal muss es jedoch darum gehen, Italien nicht länger alleinzulassen. Die Flüchtlingskrise schwächt Italien – und sie schwächt Europa. 45 Prozent aller Italiener glauben, dass ihrem Land außerhalb der EU eine bessere Zukunft blüht als innerhalb. Ein Italexit aber muss auf jeden Fall verhindert werden. Nur ein starkes, einiges Europa wird Afrika helfen können.
   
 
   
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