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Liebe Frau Dr. acad. Sommer, ich bin promovierter Physiker, 36 Jahre alt, ohne Erfahrung außerhalb Uni/MPI/Fraunhofer. Habe solide Forschung und renommierte Publikationen vorzuweisen. Aber: Ich bin eben nur "solide", nicht die Spitze der Spitze. Mich ins Ausland zu verabschieden, kommt aus familiären Gründen nicht in Frage. Für die Karriere in der Wissenschaft also reicht's vermutlich nicht, und in der freien Wirtschaft habe ich mich bisher erfolglos beworben. Vermutlich bin ich zu alt und ohne praktische Erfahrung. Mein Forschungsprojekt läuft in einem Jahr aus. Und dann?
Lieber X, in der Tat eine herausfordernde Situation: Momentan kommt auf fünf abgeschlossene Habilitationen nur eine freiwerdende Professur – noch drastischer ist das Zahlenverhältnis, wenn man habilitationsäquivalente Qualifikationswege einrechnet. Da reicht es nicht, „nur“ sehr gut zu sein. Die intensive Lektüre des Stellenmarkts oder Initiativbewerbungen sind nicht der Königsweg, um als Wissenschaftler in einem anderen Segment des Arbeitsmarkts erfolgreich Fuß zu fassen. Vielversprechender ist ein Blick auf die eigenen Kompetenzen und Interessen: Neben Forschungsmethoden haben Sie in der Wissenschaft etwa Führungspraxis, Projektmanagement, die Fähigkeit, komplexe Sachverhalte allgemeinverständlich zu vermitteln, oder parkettsicheres Auftreten erlernt. Relevante Erfahrung kann auch aus Ehrenamt oder Hobby stammen. Vielleicht haben Sie neben der Wissenschaft Interessen, die zum Beruf werden könnten? Informieren Sie sich nach dieser Selbstanalyse, wo Leute mit Ihren Kompetenzen und Interessen gebraucht werden. Knüpfen Sie ein neues berufliches Netzwerk: Womöglich haben Sie über Forschungsprojekte Kontakte mit Firmen oder Institutionen, sicher finden Sie im Bekanntenkreis oder unter ehemaligen Kommilitonen Insider aus der einschlägigen Branche. Fragen Sie nach deren Erfahrungen und Tipps. Vielleicht hören Sie auch von offenen Stellen. Setzen Sie für Bewerbung und Vorstellungsgespräch die Wissenschaftsbrille ab: Stellen Sie diejenigen Qualifikationen in den Mittelpunkt, die für die neue Stelle von Interesse sind. Passen Sie Stil und Selbstpräsentation an und verzichten Sie auf die „harte Währung“ der Wissenschaft, wie Publikations- und Vortragsverzeichnis. Bewerbungen aus der Wissenschaft scheitern oft am mangelnden Transfer zur neuen Arbeitswelt: Zeigen Sie, dass Sie wissen, worauf es dem potenziellen Arbeitgeber ankommt. Falls Sie sich bei Ihrer Bewerbung auf namhafte Konzerne konzentriert haben: Vielleicht gibt es Mittelständler oder Start-ups, die jemanden mit Ihren Kompetenzen suchen und bei denen Sie gegen weniger Mitbewerber antreten. Selbstverständlich ist auch denkbar, dass Sie eine Weiterqualifizierung draufsatteln und sich für Arbeitsfelder fit machen, die derzeit Experten suchen. Und: Verzweifeln Sie nicht. Alternative Karrierewege einzuschlagen, bedeutet kein Scheitern, sondern ist statistisch gesehen der Normalfall. Der Berufswechsel hat gute Chancen: 95% aller Promovierten sind erwerbstätig, 96% der berufstätigen Promovierten schätzen ihre Position als adäquat ein und 91% sind beruflich (sehr) zufrieden. Viel Erfolg!
Mirjam Müller ist Personalentwicklerin und Coach an der Universität Konstanz. Sie schreibt für das Coachingnetz Wissenschaft als Dr. acad. Sommer. Kontakt: www.coachingnetz-wissenschaft.de |
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