Die Woche der Erinnerung begann mit neuen Verhaftungen. 42 Akademiker wurden Anfang der Woche in Istanbul festgenommen. Das passt zur martialischen Feierlichkeit dieses Jahrestages, der von starken Gefühlen getragen ist. Was fehlt, ist Versöhnung und ehrlich empfundene Trauer. Rage und Rachsucht herrschen, das Gedenken an den Putsch zerreißt die Türkei.
Die Regierung hat unmittelbar nach dem Putschversuch vom 15. Juli eine offizielle Erzählung der Ereignisse herausgegeben, die auf eine klare Frontstellung hinausläuft. Die Regierung und das hinter ihr stehende Volk sind Opfer der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen, der den Putsch befehligt habe. Diese hermetische Erzählung wird seither in Redemanuskripte, in Bücher, in Hochglanzkataloge gepresst. Sie ist die Grundlage für eine monumentale Verfolgungsjagd. Sie behindert die Trauer der Türkei und des Auslands über die Opfer des Putschversuchs.
Denn die Erzählung lässt keine Aufarbeitung zu. Sie unterdrückt auch die Fragen zu den vielen kleinen Ereignissen des 15. Juli, die nicht zueinanderpassen.
Zum Beispiel die Geschichte der Soldaten des vierten Regiments der Fliegerstaffel von Samandıra in Istanbul, die am 15. Juli um 21.35 Uhr einen sonderbaren Befehl ihres AKP-treuen Kommandeurs erhalten. Sie sollen mit drei Hubschraubern von der asiatischen Seite Istanbuls in den historischen Teil nach Fatih fliegen. Dort sollen sie "Verletzte eines terroristischen Angriffs" in Sicherheit bringen. Wenige Minuten später versuchten die Soldaten, wie vereinbart, auf der Vatan Caddesi, einer Hauptstraße in Fatih, zu landen. Fatih ist ein sehr frommer Stadtteil Istanbuls mit vielen Anhängern der AKP.
Doch beim Landeanflug wird der Helikopter beschossen. Eine Falle. Vierzehn Kugeln schlagen ein, können den Helikopter jedoch nicht zum Absturz bringen. Die Soldaten drehen ab, benachrichtigen ihren Dienstvorgesetzten. Der befiehlt ihnen, in einer nahegelegenen Kaserne zu landen und auf weitere Befehle zu warten. Doch in der Kaserne werden die Soldaten erneut angegriffen, diesmal von Polizeitruppen, die "Putschisten" verhaften wollen. Acht der neun Soldaten heben mit einem Helikopter ab – und fliehen nach Griechenland. Sie bekommen dort Asyl. Der neunte vertraute auf Gerechtigkeit und sitzt jetzt als "Terrorist" und angeblicher Gülen-Anhänger im Gefängnis.
Solche Geschichten, die der offiziellen Putsch-Ikonografie widersprechen, werden nicht aufgeklärt. Die türkische Regierung hat die Prozesse und die Aufarbeitung monopolisiert. Wichtige Zeugen wurden vom Geheimdienst rekrutiert und müssen schweigen, andere dürfen nicht verhört werden. Die türkische Regierung sagt, sie habe den deutschen und amerikanischen Behörden massenhaft Belege übergeben, dass Gülen der Drahtzieher sei. Aber die Behörden in Berlin und Washington sagen, sie sehen keinen Beweis, dass der Prediger oder seine Bewegung den Putsch organisiert hätten. Für die knallharten Vorwürfe fehlen Belege.
Längst hat sich die Regierung bei der Erzählung in Widersprüche verstrickt. Offenbar wussten zumindest Geheimdienstchef und Generalstab viel früher von den Putschvorbereitungen als bisher behauptet. Augenzeugen berichten, dass die Verteidiger aufseiten der Regierung in der Nacht erstaunlich gut vorbereitet waren, mit Sandsäcken und Waffen. Bei den mutmaßlichen Anführern des Putsches fehlt die direkte Spur zu Fethullah Gülen.
Erdoğan nannte den Putsch ein Gottesgeschenk Jetzt blühen die Verschwörungstheorien. Hat die Regierung den Aufstand selbst inszeniert? Hat sie die Dinge geschehen lassen, um danach davon zu profitieren? Hat sie Konflikte bewusst verschärft? Hat sie den Putsch "kontrolliert", wie die oppositionelle CHP sagt? Fragen über Fragen, auf die es keine Antworten gibt.
Das Ausmaß der Zerstörung und die Vielzahl der Akteure deuten darauf hin, dass es ein Putschversuch gegen die Regierung war. Ein Aufstand von Gegnern Erdoğans, und derer sind viele: kemalistische Offiziere, Gülen-Anhänger, Soldaten, denen Erdoğan Pension, Status und Ansehen zu nehmen drohte.
Ihre Vorbereitungen konnte der Geheimdienst aufdecken, deshalb mussten sie den Putsch am 15. Juli vorziehen. Die Putschisten blieben in Stau und Chaos stecken und schossen wild um sich. 249 Menschen starben, mehr als 2.000 wurden verletzt.
Diese nationale Tragödie hätte nationale Trauer verdient gehabt. Sie hätte Tage der Stille und des Innehaltens gebraucht. Stattdessen brach Erdoğan noch in der Nacht des 15. Juli in Triumphgeheul aus. Der Putsch war ihm ein Gottesgeschenk, wie er ihn im Fernsehen nannte. Danach folgte der Frontalangriff auf alle seine Gegner und die Präsentation einer perfekten Erzählung über Täter und Opfer. Der 15. Juli ist Erdoğans Heldenmythos und Herrschaftsrechtfertigung. Er ist die Gründungslegende der "Neuen Türkei", in welcher Erdoğan den kemalistisch-autoritären türkischen Staat mit dem Islamonationalismus seiner AKP verheiratet.
Was er nicht braucht: eine langjährige Untersuchung mit Zugang zu Zeugen und allen Dokumenten, eine Wahrheitskommission wie in Südafrika oder einen internationalen Untersuchungsbericht, wie ihn die Niederländer über den Abschuss der MH-17-Maschine vorgelegt haben.
Die wahre Geschichte wäre das Ende des Heldenmythos und eine Bedrohung seiner Herrschaft.