Nur Photoshop bringt uns wieder zusammen Meine syrische Familie lebt auf drei Kontinenten, über WhatsApp halten wir Kontakt. Plötzlich tauchte in der Chatgruppe ein Bild auf, das wohl nie Wirklichkeit wird. VON DIMA AL-BITAR KALAJI |
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| | Für viele Flüchtlinge ist der Familienchat die einzige Möglichkeit, sich regelmäßig auszutauschen. © Lene Muench/The Washington Post/Getty Images |
Piep, piep. Eine WhatsApp-Nachricht auf meinem Mobiltelefon. Die Familiengruppe. Jede syrische Familie hat jetzt eine Gruppe bei WhatsApp. Die Gruppe ersetzt das, was wir verloren haben, nämlich das wirkliche Leben, das Wohnzimmer, in dem wir alle immer zusammensaßen, Zeit miteinander verbrachten und uns erzählten, was wir den Tag über gemacht hatten.
Jetzt fasst jedes Familienmitglied zusammen, was es gerade so tut und was es vorhat, unabhängig vom jeweiligen Aufenthaltsort. In ein paar geschriebenen Nachrichten, Sprachmitteilungen, Fotos und Kurzvideos wird so ziemlich alles geteilt: das Mittagessen, ein neues Paar Socken, komplizierter Papierkram und der Blick aus dem Fenster.
Die Eltern schicken meistens Bilder von Blumen oder Kerzen mit Sätzen, in denen sie einen guten Morgen oder einen schönen Abend wünschen. Sie schicken auch sehr ausschweifende, irgendwo kopierte, langweilige Geschichten über Moral, Weisheit und die Lektionen des Lebens. Diese Nachrichten liest niemand. Sie wissen das, aber sie schicken sie trotzdem.
Meine Mutter schickt mir überdies Nachrichten, in denen sie mich daran erinnert, häufiger Wasser zu trinken, weil ich das immer vergesse.
Piep, piep. Eine WhatsApp-Nachricht auf meinem Mobiltelefon. Die Familiengruppe. Mutter hat ein Bild geschickt. Ich sehe mir das Bild eine Weile an, ich kenne es sehr gut, es wurde mit meiner Kamera aufgenommen. Ich habe den Bildausschnitt ausgewählt und den Timer gestartet. Ich rannte und habe rechtzeitig vor dem Klick mein unbeholfenes Fotolachen aufgesetzt. Das Foto entstand im Sudan, wo ich meine Familie traf, um neun Monate nach der Geburt meiner Tochter allen das erste Enkelkind der Familie vorzustellen. Der Sudan war das einzige Land, in dem wir uns mit unseren nutzlosen syrischen Reisedokumenten treffen konnten.
Rechts im Bild sitzt mein Vater, hellbraune Haut, grüne Augen. Er hat schwarzes Haar, während sein zarter Bart fast weiß ist. Er beugt seinen Körper zur Kamera, legt die Ellenbogen auf den Armlehnen des Stuhls ab und hält die verschränkten Hände vor der Brust. In seinem blauen Hemd und einer Jeans lacht er nicht und schaut direkt in die Linse: ernst, konzentriert und unerschütterlich. Die Haltung meines Vaters auf dem Bild gleicht seiner Haltung im Leben. Er neigt sich dir entgegen, aber er verschränkt stets seine Arme, um einen Abstand zu wahren, dich fernzuhalten oder vielleicht auch, um sich fernzuhalten.
Links auf dem Bild steht ein kleines Sofa, auf dem alle anderen dicht an dicht sitzen, so eng, dass wir kaum noch in unseren individuellen Details zu erkennen sind. Mein Ehemann sitzt meinem Vater am nächsten. Ihre Knie sind nebeneinander. Ich sitze zwischen meinem Mann und meiner Mutter, danach kommt meine Schwester, sie sitzt der Kamera am nächsten. Meine Tochter sitzt auf meinem Schoß und starrt ihre Tante an.
Kaum Chancen auf ein Wiedersehen
Auch die Haltung meiner Mutter ähnelt ihrer Lebenshaltung: Wie eine Glucke umarmt sie glücklich ihre Küken. Im Bild sind außerdem auch noch all die Dinge zu sehen, die man üblicherweise in Familienporträts finden kann: die Ecke eines Gemäldes, ein Teil der Vorhänge, der halbe Teppich.
Zwei Personen fehlten im ursprünglichen Porträt und wurden später (mit wenig Photoshop-Geschick, dafür aber mit offensichtlichem Aufwand) zu dem Porträt hinzugefügt: meine Brüder. In Umkehrung dessen, was der Fotograf Dario Mitidieri getan hat, als er Porträts von syrischen Familien mit leeren Stühlen machte, die auf die vermissten Familienmitglieder verwiesen, hat meine Mutter meine abwesenden Brüder einsetzen lassen. Das bearbeitete Bild schickte sie in Begleitung eines kurzen Kommentars: "Meine geliebte Familie zusammen in einem Porträt".
Mein jüngerer Bruder, der inhaftiert ist, wurde zwischen meinen Vater und meinen Ehemann montiert, der ältere an den rechten Bildrand hinter meinen Vater. Wie glücklich meine Mutter war, als sie mir erzählte, dass eine Freundin der Tochter ihrer Freundin das Foto für sie bearbeitet habe. Oh! Was für eine große Runde. Eine vollkommen Fremde ist durch all unsere privaten Fotos gegangen, um dieses Ergebnis zu erzielen!
Meine Versuche, meinen älteren Bruder in einem privaten Austausch außerhalb der Familiengruppe in eine Unterhaltung darüber zu verwickeln, wie seltsam und traurig das Bild an der Wohnzimmerwand aussehen wird, liefen vollkommen ins Leere. Er wies schlicht und pragmatisch darauf hin, dass die Chancen auf ein Wiedersehen von uns Sechsen sehr gering bis nicht vorhanden seien. Und wenn dieses Bild meine Mutter glücklich mache, dann erfülle es doch seinen Zweck.
Ich hasse es, wenn er recht hat.
Mir ist klar geworden, dass wir als Familie traurigerweise kein Familienporträt von uns haben, und dass meine Mutter deshalb eine Fremde bitten musste, eines für uns zu schaffen. Das hat nichts mit Konflikten unter uns zu tun – ich bin einfach nur Mitglied einer Familie, die sich ungern porträtieren lässt. Eine Fotografin fragte einmal meine Großmutter auf einer Hochzeitsfeier, ob sie ein Bild von ihr und ihrer Tochter, der Braut, machen solle. Meine Großmutter antwortete, dass sie erst zwei Wochen zuvor für ihren Pass fotografiert worden sei, und dass sie keine neuen Fotografien wolle.
Ich habe ein Bild, das meine Großeltern mit ihren sechs erwachsenen Kindern zeigt. Meine Großeltern sitzen in der Mitte. Rechts sitzen meine Mutter und ihr erstes Kind, links sitzt ihre Schwester, hinter ihnen steht mein Onkel, der die jüngeren drei Schwestern umarmt. Es ist eines der einfachsten, schönsten, fröhlichsten und lebendigsten Familienporträts, das ich je gesehen habe. Ich habe das Bild aus unserem Wohnzimmer in Damaskus gestohlen und mit mir nach Berlin gebracht.
Papa, Mama und ihre vier Kinder, wir zusammen, wir haben kein solches Bild. Meine Mutter drängt zwar immer darauf, aber es hat sich nie ergeben, immer war irgendwer nicht da, oder es war dann doch nicht so wichtig. Ich denke, wir haben uns einfach nie ausgemalt, dass wir über Kontinente verteilt sein würden, dass wir in vier Ländern – von Syrien über die Emirate bis in die USA und Deutschland – leben würden. Und einer von uns in Haft.
Einer nach dem anderen haben wir unsere Leben in Kisten gepackt, haben unsere Namen darauf geschrieben, sie ordentlich im Familienhaus in Damaskus verstaut und sind gegangen. Heute lebt meine Mutter allein mit einer alten, faulen Katze in einem Haus voller Kisten, und im Wohnzimmer hängt ein fingiertes Familienporträt.
Aus dem Englischen von Heike Geißler
Dima al-Bitar Kalaji ist eine freie syrische Journalistin, die seit 2013 in Berlin lebt. Sie arbeitet für Radio SouriaLi und schreibt ein Blog über Schwangerschaft für arabische Frauen in Berlin. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8". Sie wollen der Diskussion unter dem Text folgen? Hier geht es zum Kommentarbereich. |
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