10 nach 8: Sabine Scholl über Herkunft

 
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19.07.2017
 
 
 
 
10 nach 8


Einmal Außenseiter, immer Außenseiter
 
Den Verhältnissen unserer Kindheit entkommen wir nicht. Wer kein soziales Kapital von zu Hause mitbringt, wird nie Karriere machen. Da kann man noch so exzellent sein.
VON SABINE SCHOLL

Seine Kindheit wird man nicht los. © Kristina M/unsplash.com
 
Seine Kindheit wird man nicht los. © Kristina M/unsplash.com
 
 

Kürzlich, während eines Hearings auf einem historischen Campus nahe einer mittelgroßen deutschen Stadt, zählte ich meine an Universitäten in USA, Japan, Portugal verbrachten Jahre auf. Es ging um Antworten auf Pflichtfragen, die von Menschen gestellt wurden, die ihren geschützten Bereich wohl selten verlassen hatten, sonst hätten sie es nicht geschafft, sich dauerhaft an Institutionen zu etablieren. Ihre Lebensläufe hatten, im Gegensatz zu meinem, keine umzugs- und kindererziehungsbedingten Lücken, sondern schienen alle nötigen Stationen aufzuweisen. Und ich spürte, dass ich solchen Ansprüchen an Vollständigkeit nie genügen würde. Wieder einmal fragte ich mich, ob es möglicherweise an meiner Herkunft liegt, dass ich nirgends richtig hinpasse. Denn wo wir wohnten, wollte keiner hin, der etwas zählte. Schon der Name rief unangenehme Gefühle hervor und wir sollten uns hüten, ihn anderen zu verraten.

Mein Großvater hatte während des Krieges für seine vielköpfige Familie einen alten Bauernhof erworben. Es war kein Stammsitz eines Großbauern, sondern vorerst Mühle, später Gasthof, danach das Armenhaus der Gemeinde gewesen. Entweder erfolgte der Verkauf unter der Auflage, dass die Bewohner als Mieter übernommen wurden oder die Vermietung half, den Kauf zu finanzieren, so richtig konnte ich das nicht eruieren. Darüber zu sprechen war tabu, als sollten wir uns selbst nicht an den schlechten Ruf unserer Gegend erinnern. Jedenfalls war, seit ich denken kann, eine unsichtbare Grenze mitten durchs Haus gezogen, zwischen "denen" und "uns". Die verbotenen Gebiete waren genau umrissen und alle hielten sich daran. Nur wir Kinder überschritten die Linie oft und heimlich.  

Das Blut tropft auf dem Holzfußboden

So lernten wir die Ausgemusterten kennen. Eine ledige Mutter, ein zwergwüchsiges Paar, Vertriebene, eine kinderreiche Familie von Tagelöhnern, die Alkohol tranken und Zigaretten rauchten, das Paar mit geistig zurückgebliebenen Söhnen, die sich nacheinander auf die Gleise des hinterm Haus durchbrausenden Zuges legten und totfahren ließen. Auch ihr Vater hatte sich einmal die Pulsadern aufgeschnitten und wir Kinder standen staunend davor, ohne zu begreifen, was das auf den Holzboden tropfende Blut bedeutete. Wurden wir im verfemten Teil des Hauses, auf dem Vorplatz oder der falschen Wiese erwischt, drohten Strafen. Später zog die erste Gastarbeiterfamilie mit Nachwuchs ein. Den Vater hatte mein Onkel im Stahlwerk, wo beide arbeiteten, kennengelernt. Seltsamerweise galt für diese türkischen Kinder das Verbot nicht, sie waren beliebt und durften mit uns spielen.

Auch auf der guten Seite kamen Menschen zu Tode. Ein Cousin ertrank zweijährig im Fluss, einer starb bei einem Autounfall, seine Schwester atmete in der Garage Abgase ein. Meine Eltern standen unter dem Druck ihrer eigenen Familien und stimmten in deren Ablehnung meiner Versuche, dem Milieu zu entkommen, mit ein. Allein, dass sie mir erlaubt hatten, eine höhere Schule zu besuchen, brachte ihnen Kritik ein, und sie konnten sich nicht erklären, was ich im Studieren verfolgte. Dass ich ein Mädchen war, das lieber lernte und las, anstatt an Heirat zu denken, wurde als unweiblich und damit wider die Natur kommentiert. Als Kind hatte ich meinen Vater noch bewundert, weil er Möbel bauen konnte, Autos reparierte und Lokomotiven steuerte. Später, als ich auf Anraten meiner Lehrerin dennoch ins Gymnasium durfte, wollte ich ihn im Beisein von Mitschülerinnen nicht mehr grüßen, so peinlich war er mir. Die von meiner Mutter genähten Kleider waren nur so lange bewundernswert, bis sie als Beweis dafür galten, dass wir uns gekaufte Jeans nicht leisten konnten.

Flucht ins Witzeln

Eine Bekannte, der ich einmal diese Geschichte erzählte, bemerkte, dass ich mit dem Kindheitsort einen Schatz mit mir herumtrage, den ich besser nutzen sollte. Ich habe das damals nicht verstanden. Sie meinte wohl, dass mir auf diese Weise früh die Augen für Außenseiter und das Funktionieren einer Gesellschaft geöffnet wurden. Das mag stimmen. Die Themen, über die ich schreibe, sind stets von Grenzgängern, Außenseitern, von Vermittlern zwischen verschiedenen Welten bestimmt.

Andererseits wurde ich lange das Gefühl des Versteckenmüssens nicht los, um in Künstler- und Akademikerkreisen respektiert zu werden. Und die Gewissheit, dass ich die ungeschriebenen Regeln und Stützpfeiler von Bessergestellten nur in Bruchstücken kenne und deshalb immer wieder ausbrechen will, um mein Scheitern daran zu verwischen. Solches Verhalten schlägt stets in Krisensituationen durch und nimmt mir die Souveränität, die ich glaubte, durch die Abwendung vom Ort der Kindheit zu erreichen.

Ich beginne zu provozieren, flüchte ins Witzeln. Erlebe Momente, in denen ich unfähig bin, meine Leistungen darzustellen, weil ich mich tatsächlich nicht mehr daran erinnere, weil mir die Worte entgleiten, und nur mehr eine riesige Unmöglichkeit im Raum steht, die mir klarmacht, dass ich nichts bin und nichts weiß und schnell verschwinden soll. So wie auf jenem Campus vor den Prüfern der Kommission. Weil ich mich in solchen Augenblicken erneut an dem verfemten Ort befinde, wo keiner es wagte, gegen die Ausgrenzung anzugehen.

Nur das Schreiben bietet ein Zuhause

Nicht einmal die politische oder feministische Schulung während des Studiums half. Meist waren die Gesprächspartner in der Klassenfrage ideologisch beschlagener als ich, obwohl sie aus Lehrer-, Arzt- oder Unternehmerfamilien stammten. Diese Kollegen waren es auch, die anmahnten, ich solle mich nicht vereinnahmen lassen von kapitalistischen Strukturen, nicht einfach gehorsam arbeiten, sie forderten mehr Revolution. Ich jobbte, um mir das Studium leisten zu können, während ihre Eltern ihnen die Studien finanzierten. Ich begriff nicht, dass exzellente Leistungen nie ausreichen, wenn soziales Kapital, strategisches Wissen und ja, auch gesicherter finanzieller Rückhalt, fehlen. Deshalb bin ich nie wirklich aufgestiegen, sondern habe bloß meinen Radius erweitert.

Du gehörst nicht dazu

Trotzdem habe ich mir keine bessere Herkunft erfunden, wie meine Freundin, die Tochter eines Gendarmen. Wir waren die einzigen aus unserer Schule, die das Gymnasium besuchten, auch dank der damaligen sozialistischen Bildungspolitik. Weil sie Adelheid hieß, wollte sie mir weismachen, dass sie blaublütig war und zeichnete in den Pausen die verzweigten Stammbäume von Komtessen und Baronessen, die sie mit den Habsburgern verbanden, während ich ja bloß von Bauern herkam. Bauernsau, quälten die Mitschülerinnen in grausamen Anflügen mich und zwei andere, die ebenfalls kein ansehnliches Elternhaus vorzuweisen hatten, und rümpften die Nasen, weil wir vermeintlich nach Kuhmist stanken, was im Grunde bedeutete, du gehörst nicht dazu.

Da hilft nur mehr abhauen, dachte ich. Laufen, gehen, davonfliegen und vor allem, in Großstädten leben. So suchte ich das Ungenügen an der Gegenwart durch die Wahl eines immer neuen Ortes zum Besseren zu verändern. Das einzige, das blieb, war die Naht zwischen mir und den wechselnden Umgebungen, die immer aus Worten bestand. Ich fand ein Zuhause in meinem Schreiben, wo vieles möglich wird.

Die Geschichte meiner Herkunft trage ich weiter in meinem Körper und meinen Träumen. Wohin ich auch komme, begleitet, quält und nährt sie mich. Statt Heimat verwende ich mittlerweile den Begriff Zugehörigkeit, denn der ist nicht an einen Ort, sondern an Menschen gebunden. Von jenem Universitätscampus bin ich schließlich demütig und dankbar in die Großstadt zurückgekehrt, wo ich nicht auffalle, sofern ich es schaffe, meine Miete rechtzeitig zu bezahlen. Aber wie lange noch? Und wohin dann?

Sabine Scholl schreibt und unterrichtet Literatur, forscht zur Wahrnehmung des Fremden, arbeitet an einem Roman über Begegnungen zwischen Sri Lanka und Österreich, sowie an einem Sachbuch über Rassismus zur Wendezeit. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".
 

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