Noch einen dicken Klecks Konsenspudding?Das Glück der Deutschen hängt nicht von der Außen- und Flüchtlingspolitik ab. Umso niederschmetternder, dass über die wahren Probleme geschwiegen wird. VON MELY KIYAK |
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Der Verdruss wächst. Der Verdruss über fehlende Gesprächstiefe im Bundestagswahlkampf, Verdruss über Diskussionen, deren Niveau sich knapp über dem Wissensstand der neunten Klasse halten, Verdruss auch über ein begrenztes sprachliches Repertoire, über einen Überfluss an Vereinfachung. Manche glauben wirklich, je schmaler ihr Tortenstück im Diagramm wird, desto flacher muss es werden. Weil angeblich "die da draußen nicht mehr verstehen, worüber hier gerade gestritten wird". Die Semantik hat sich ohnehin schon verschoben. Von der Auseinandersetzung im Sinne von These und Antithese hin zu einer Sprache, die bislang in Werbekampagnen verortet war. Es wird weichgezeichnet, geschnulzt, ein Schmierfilm ausgekippt. Es gibt aber tatsächlich noch Leute in diesem Land, die drei Sachverhalte in eine innere Ordnung bringen können. Wenn eine relativ große Gruppe von Wählern sich mit ihrer Entscheidung bis Sonntagmittag Zeit lassen möchte, heißt das nicht, dass diese Bürger nicht wissen, was sie sich für ihr Leben wünschen – das wissen sie sicher ganz genau – sondern bedeutet, dass sie sich nicht sicher sind, wen sie wählen müssen, damit die Lücke zwischen ihrem Wählerwillen und dem Parteiprogramm möglichst klein ausfällt. Die Programme lesen sich bisweilen wie die Zutatenliste von Instantbrühwürfeln: Man weiß nie, was sich dahinter wirklich verbirgt. Es gab einmal keinen Mangel Intuitiv begreift jeder Mensch, dass Deutschland schon lange nicht mehr das Land ist, in dem die Mehrheit unabhängig vom Einkommen "gut und gerne" lebt, wie es die CDU so hübsch claimt. Solche Zeiten gab es zumindest in Westdeutschland wirklich einmal. Das war noch vor dem Fall der Mauer. Wo das Kind eines Arbeitslosen oder Sozialhilfeempfängers genauso wie das Kind eines Richters oder einer Krankenschwester auf Klassenfahrt gehen konnte und jahreszeitengerechte Kleidung trug. Die einen wurden mit Schiesser und Benetton eingekleidet, die anderen bekamen Kniehosen und Pullis von Ernstings Familiy. Es war eine Welt, die sich materiell nur dadurch unterschied, dass für das eine Kind mehr und das andere Kind finanziell weniger ausgegeben wurde, aber es gab keinen Mangel. Keinen Mangel an Brillen, an Zahnspangen, an Fahrrädern, und der Mitgliedsbeitrag für die Sportvereine war lächerlich gering. Überhaupt Sportvereine, so etwas gab es flächendeckend, genauso wie Kinder-Sommerprogramme, ja, es war das Paradies, indem sozioökonomisch Schwache den Lebensstil der Mittelschicht lebten. Das war bevor Kinder von Langzeitarbeitslosen auf dem Arbeitsamt für Bildungschipkarten vorsprechen mussten und eine Familienministerin (damals Ursula von der Leyen) in Talkshows zu Wahlkampfzwecken dafür warb, dass Unternehmen diesen Kindern Nachhilfe und Gitarrenstunden spendieren sollen. Ist was bekannt? Hat Tchibo Musikunterricht bezahlt? Hat Nordsee Freibad-Sommerspaß veranstaltet? Geblieben ist nur der Eindruck eines unfassbaren Peinlichkeitsgefühls, dass Deutschland das Land ist, das sich nach außen als Bildungsexporteur und Schulenbauer sieht, und nach innen Anträge für "Bildungszeitkonten" und "Teilhabepakete" in Arbeitsagenturen ausfüllen lässt, wo dann die Kinderlein brav auf die "Bescheide" für "Einzelbewilligung" warten müssen, weil der "Bildungsträger" die "Einzelabrechnung" noch nicht verschickt hat, und sie derweil aus den "Bedarfen" rausgewachsen sind und neue "Bedarfe anmelden". Oh, Mann, Deutschland, du und deine Bedarfe! Früher ging man in jeder westdeutschen Stadt ins Rathaus, holte sich das Heftlein für das Sommerprogramm, und wenn die Kinder Probleme in der Schule hatten, brachten die Lehrer den Eltern persönlich die Freizeitangebote der örtlichen Stadtbücherei mit (die früher übrigens tagesaktuell mit kostenlosen Zeitungen und Zeitschriften ausgestattet waren, wo Rentner gemütlich ihre Vormittage verbrachten) oder den Wochentagesplan für die Schülernachhilfe. Dankbar erinnert man sich, weil man ganz kurz in dieses Paradies hineinschnuppern durfte und erfuhr, wie das geht: soziale Marktwirtschaft und Bildungsgerechtigkeit, danke, Willy, für immer! Okay, diese Welt gibt es nicht mehr. Schade eigentlich, dass die Politiker keine Rechenschaft darüber ablegen müssen, denn die meisten von ihnen sind aufgrund ihrer langjährigen Parteizugehörigkeit und Dienstkarrieren verantwortlich dafür, dass das, was ein Leben reich macht an Erfahrung und Eindrücken (Schwimmbad, Eisdiele, Sozialwohnung mit Blick ins Grüne, Volkshochschule, Kino und Sommertheater), nach und nach verkauft, privatisiert und geschlossen wurde. Diese Politiker sitzen heute in den Talkshows und leiden unter heftiger Amnesie, denn sie versuchen tatsächlich, die Globalisierung aufzuhalten und menschlich zu gestalten, wo sie es doch nicht einmal schafften, das wertvolle Geld in einer Kommune nicht für wahnwitzige Investitionen oder Anlagegeschäfte auf den Kopf zu hauen. Ja, auch das hat man längst durch. Schon vergessen, wie viele Kommunen mit fragwürdigen geldgierigen Investmentgeschäften Geld verbrannten? Alltagsprobleme werden als Einzelschicksal inszeniert Wer übrigens mit "den" Politikern gemeint ist? Eigentlich fast alle, die heute in der Bundespolitik arbeiten und Bundestagswahlkampf machen. Sie haben nahezu ausnahmslos in der Kommunalpolitik angefangen, waren Bürgermeister oder hatten anderweitig Verantwortung auf Landesebene. Es gibt Menschen, die in der Lage sind, die Verschlechterung zu erkennen. Sie sehen flaschensammelnde Rentner, heruntergekommene Spielplätze, verschimmelte Hallenbäder, hysterische Lehrer, ausgelaugte Erzieherinnen, sie sehen, dass Deutschland von alter Substanz lebt. Und langsam beginnen die ersten, die sich für Wirtschaftskreisläufe interessieren, ernsthaft zu sorgen. Sie drehen deshalb noch nicht durch und wählen die AfD, so weit unten sind sie nicht und werden es auch nie sein. Sie bewahren Contenance und grübeln. Wie lange wird man noch mit seiner AOK-Karte bei einem Arzt vorsprechen dürfen? Wann wird das jetzige Rentensystem als gescheitert erklärt, wenn man doch schon 15 oder 20 Jahre arbeitet, und der jährliche Bescheid immer noch einen Betrag ausweist, der beim Renteneintrittsalter das Existenzminimum noch um die Hälfte unterbietet? All das seift die politische Klasse in ihren Schmierfilm ein, immer mit dem Hinweis, dies sei ja nun Ländersache und jenes sei Sache der Kommune. Dann wird so getan, als habe die Angelegenheit der 890.000 Geflohenen in Deutschland irgendetwas zu tun mit dem zuvor besagten maroden Leben des Einzelnen in Wattenscheid oder Wolgast. Und möglicherweise ist es genau das, was viele entnervt als Konsenspudding umschreiben. Dass man sich in den großen Dingen einig ist (mehr Polizei, Geflohene zügig in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt integrieren, weniger Bürokratie, Kameraüberwachung mal sehen). Aber dass lediglich bei Maybrit Illner & Co. auf dem Einzelschicksalsstuhl der Nation schluchzend vorgerechnet wird, "was am Ende des Monats übrig bleibt", obwohl es längst nicht mehr den Einzelnen, sondern eine kaum mehr zu ignorierende Wählergruppe betrifft – das ist das Niederschmetternde. Man will das nicht so abgehandelt und debattiert sehen. Nicht so niederträchtig voyeuristisch, so abgrundtief menschenverachtend vorgeführt. Man will, dass darüber richtig geredet wird. Es gibt viele Menschen in diesem Land, denen die Armut ihrer Mitbürger nicht egal ist, weil ihnen langsam dämmert, dass sie möglicherweise auch bald gezwungen sind, bei Anne Will zu weinen, in der Hoffnung, dass nach dem Auftritt eine bezahlbare Wohnung oder eine weitere Niedriglohnbeschäftigung herausspringt. Wenn aber jede Diskussion über Steuergerechtigkeit und Staatsausgaben als Neiddebatte abgewürgt wird mit dem Hinweis, dass "datt Digitale die Zukunft bestimmt", dann ist doch auch klar, dass man in der Wahlkabine richtig intensiv nachdenken und Abwägungen treffen muss, als handele es sich um Kaufentscheidungen bei Karstadt. Mit dem Diesel weiterfahren dürfen, obwohl man nicht weiß, wovon den Sprit bezahlen? Die Partei, die für diesen Umstand Besserung verspricht, ist aber nicht dieselbe Partei, die das Leid der pflegenden Angehörigen im Blick hat, und das der Töchter und Ehefrauen, die ihr Leben opfern, um den Kranken das Dahinvegetieren in miesen öffentlichen Heimen zu ersparen. Die Lebensqualität, die Arbeitsbedingungen und Aufstiegschancen der Kinder von Frau Öztürk, Herrn Kowalski und Familie Müllermeierschmidt jedenfalls hängen nicht ab von Außen- und Flüchtlingspolitik. Es sind ganz andere Faktoren, die ihr Leben sichtbar und erfahrbar verbessern würden. Aber über die wird in diesem Wahlkampf kaum gesprochen.
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