Wir zärtlichen Deutschen Vor zwei Jahren erlebte dieses Land seinen Sommer der Liebe: Die große Hilfsbereitschaft gegenüber Geflüchteten wies eine mögliche Zukunft. Und was ist draus geworden? VON HEIKE-MELBA FENDEL |
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| | Das berühmte Selfie mit Merkel: Die Bundeskanzlerin posierte am 10. September 2015 in Berlin-Spandau für ein Foto mit einem Flüchtling. © Bernd von Jutrczenka/dpa |
Der "Summer of Love" feiert dieser Tage sein 60. Jubiläum, jener rauschhafter Sommer also, in dem sich die Hippie-Bewegung von San Francisco aus anschickte, die für den Glauben an freie Liebe und freies Leben empfänglichen Regionen der Welt zu erobern. Überlebt hat die Hippie-Ära – wie so viele dem Aufbruch verschriebene Bewegungen – erstarrt in Kitsch, Kommerz und Nostalgie, also der Erinnerung an nie Gewesenes.
Genauso lang vergangen scheint ein ganz anderer "Summer of Love" zu sein: der im Deutschland des Jahres 2015. Für wenige Monate, vielleicht auch nur Wochen, waren die Deutschen nicht wiederzuerkennen: Die Öffnung der Grenzen für Hunderttausende Geflüchtete öffnete die Herzen von Millionen Menschen. Und es blieb nicht wie so oft bei der folgelosesten aller Regungen, der Sentimentalität, sondern es wurde gehandelt, also geholfen. Die in diesen Tagen entstandenen Bilder sind sattsam bekannt: Der Münchner Polizist, der einem Flüchtlingsjungen seine Kappe auf den kleinen Kopf setzt, die Beifall klatschenden Menschen an den Bahnhöfen oder die Kleider faltenden Helfer in riesigen Lagerhallen.
Überlebt hat dieses empathische und ja, auch dieses sich an seiner Empathie, seinem Gutsein berauschende Deutschland, nicht. Allenfalls im Rahmen einer gewissen Scham über eben diese Empathie angesichts der, als Folgen der Grenzöffnung empfundenen Desaster in Form von Terror und sexuellen Übergriffen. Geblieben ist ein schamhaftes: "Mann, waren wir naiv", oder, im Duktus der Besserwisser: "Das musste ja so kommen". Musste es wirklich?
Die Politik jedenfalls reagiert längst auf ebenfalls sattsam bekannte Weise. Wahlweise mit dem Totschweigen einer Verantwortung für hier lebende oder noch zu erwartende Geflüchtete. Oder mit offensivem Hardlinertum. Hin und wieder wird ein Dank an die ehrenamtlichen Helfer abgesondert, die bis heute fortsetzen, was an den Bahnhöfen und Erstaufnahmestellen begonnen wurde: Hilfe leisten.
Denn ja, es gibt sie weiterhin, die ehrenamtlichen Helfer, und sie sind viele, von bis zu sechs Millionen, geht eine Studie der Evangelischen Kirche aus. Aber die Hilfe ist wieder da gelandet, wo sie in Deutschland gern abgelegt wird: Im toten Winkel der Leistungsgesellschaft. Kein Wunder also, dass zwei Drittel der Helfer Frauen sind. Die haben ja angeblich mehr Herz, weniger Machtstreben oder die strukturell höhere Opferbereitschaft.
Nächstenliebe gilt wieder als Gedöns
Vielleicht hatten und haben sie einfach das bessere Gefühl für das, was im Tennis der "big point" genannt wird, jener entscheidende Moment, der Verlauf und Ausgang eines Spieles drehen kann. Was rasch "Flüchtlingskrise" genannt wurde, wäre die Chance gewesen, einen solchen big point für Deutschlands Zukunft zu machen, Denken, Leben und Arbeiten entlang neuer Paradigmen zu verorten. Das so eruptiv wie kollektiv menschlich agierende Deutschland hat es einen verheißungsvollen Moment lang möglich erscheinen lassen. Der Moment ist rasch verstrichen. Längst ist praktizierte Nächstenliebe im politischen Tagesgeschäft wieder zu Gedöns herabgestuft worden. Erst einmal müssen allerorts Lücken gestopft werden: Ehrlichkeitslücken in der Autoindustrie, Einkommenslücken bei den Frauen, Breitbandlücken in der Provinz, Baulücken in den Metropolen, Selbstbewusstseinslücken im Umgang mit der Türkei und Bildungslücken allerorten.
Die PR-Gesellschaft frisst die Wahrheit und scheidet sie als Thema aus. Das Thema wird, in Pro- und Contra-Anteile aufgespaltet, als notdürftig aufbereitete Debatte neuerlich in den PR-Kreislauf eingespeist. Der Mut zur Lückenbeseitigung, auch Wahlversprechen genannt, ist so wohlfeil wie konsensfähig. Nur scheinbar ist er an den "hart arbeitenden Menschen", den "Menschen im Lande" oder "den Menschen da draußen" ausgerichtet, aber vor allem an den hart schreibenden, schrill postenden und heftig antichambrierenden Menschen, die die mediale und politische Wirklichkeit erst konstituieren. Ein aus Partikularinteressen zusammengesetztes Wirklichkeitsmosaik, verfugt mit der Überzeugung, jeder sei sich selbst der Nächste.
Gutes tun, gar gut sein, entzieht sich dem Regelwerk der PR-Gesellschaft. Menschlicher Anstand und mediale Schrillheit passen nicht zusammen. Es bedurfte in jenem Sommer 2015 der millionenfachen Sichtbarwerdung der guten Deutschen – und einer Kanzlerin, die sich davon zu eigenem Handeln inspirieren ließ – um Helfende zu Protagonisten in Talkshows und zum Titelthema oder Gegenstand von Meinungsabsonderungen jedweder Provenienz und Kompetenz zu machen.
Eigentlich sind die Deutschen ganz anders
Natürlich nur so lange, bis sie ihre mediale Schuldigkeit getan hatten und gemeinsam mit Angela Merkels einstigem It-Statement "Wir schaffen das" zu den Themen von gestern gepackt wurden.
Dabei stehen dieser Satz wie die Menschen, die ihn beseelen, für ein von Anstand und Menschlichkeit bestimmtes, aber auch mit vielfältigen Fähigkeiten ausgestattetes Kollektiv. Ein Kollektiv, das bereit ist, sich handelnd einem begründeten Optimismus zu verschreiben. Das Ganze in diesem Fall zum Wohle von Menschen, die neu in unser Land kommen. Dieses Kollektiv hätte Deutschland sein können. Es ist Konjunktiv geblieben. Vielleicht nicht zuletzt, weil die Hilfsbereitschaft – die immer auch an Veränderungsbereitschaft gekoppelt ist – eine Kernqualität, ja Kernkompetenz der Deutschen darstellt, die entweder verkannt, verkitscht oder verlacht wird.
Verlacht werden Helfende unter anderem als Spendenweltmeister, die ihr Gewissen mit einer Paypal-Überweisung ruhigstellen, als Ignoranten, die im Taumel der Selbstergriffenheit Schmarotzertum befördern oder als peinlich dumme Gutmenschen, die den Schuss der Leistungsgesellschaft nicht gehört haben. Um nur die freundlicheren Aspekte des medialen Meinungsspektrums anzureißen.
Zuspruch in Richtung Weltverbesserung
Verkannt werden sie als Gestalter eines Aufbruches, der diesen Namen wirklich verdient. Denn eigentlich sind die Deutschen ganz anders, sie kommen nur so selten dazu. Sie brauchen – auch das ist eine Erkenntnis aus dem Sommer 2015 – eine konkrete Herausforderung, die ihren Willen und ihre Fähigkeit, Gutes zu tun, triggert. Und sie brauchen Zuspruch, um den Aufbruch Richtung Weltverbesserung – so pathetisch das klingen mag – zu konkretisieren. Beides zu leisten wäre, auch, Aufgabe der Politik.
"Machen wir unser Herz nicht eng mit der Feststellung, dass wir nicht jeden, der in unser Land kommt, aufnehmen können. Ich weiß ja, dass dieser Satz sehr, sehr richtig ist. Aber zu einer Wahrheit wird er doch erst, wenn wir zuvor unser Herz gefragt haben, was es uns sagt... Tun wir wirklich schon alles, was wir tun könnten?" Diese Sätze sind aus Joachim Gaucks Weihnachtsansprache 2013. 18 Monate, bevor Deutschland seinen kurzen "Summer of Love" vollzog und erlebte. Als sich Türen in Möglichkeitsräume öffneten, in denen vieles von dem sichtbar wurde, was die Deutschen tun könnten.
Nun sind Gaucks Sätze noch mehr "last season" als Merkels "Wir schaffen das". Aber vielleicht sollten politische und moralische Handlungsmaxime auch nicht der Logik von Handtaschenverkäufern folgen. Oder überhaupt einem rein ökonomisch definierten Primat. Vielleicht hätte man auch "nach Köln" und den vielen anderen Anlässen, die das zuvor herbeigeschriene Kippen der Stimmung unausweichlich erscheinen ließen, Kurs halten, um die Menschen in ihrem Aufbruchswillen, statt in ihren niederen Instinkten zu stärken.
Bezogen auf den Wirtschaftsstandort Deutschland ginge die Frage, ob wir wirklich alles tun, was wir tun könnten, auch Christian Lindner locker über die Lippen, und ein in Richtung Autoindustrie geschmettertes "Wir schaffen das" stieße sofort auf überparteilichen Konsens. Menschlichkeit offensiv zu befeuern oder gar einzufordern, scheint den "Menschen im Land" hingegen nicht zumutbar zu sein.
Ist es doch. Muss man machen und sollte man machen. Denn der Sommer 2015 ist wirklich passiert. Und ein "Weiter so" kann es geben. Offenen Herzens und sehenden Auges und mit uns allen.
Heike-Melba Fendel ist Autorin und Inhaberin der Künstler- und Veranstaltungsagentur Barbarella Entertainment. Sie lebt in Köln und Berlin. Sie ist Mitglied der Redaktion von "10 nach 8". Sie wollen der Diskussion unter dem Text folgen? Hier geht es zum Kommentarbereich. |
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