Eins vorweg: Das Hoch- und wieder Herunterschreiben von Politikern gehört zu den ärgerlichsten Erscheinungen des politischen Journalismus, Ausdruck der Konkurrenz am Markt. Die Versuchung ist groß, "Erster!" zu rufen, niemand will zur Nachhut gehören. Doch ob es wirklich stimmt, dass Schnelligkeit für das Publikum mehr zählt als Erkenntnis?
Jedenfalls sieht es danach aus, dass jetzt Frankreichs Präsident seine Abreibung bekommt. Obwohl
Emmanuel Macron derselbe geblieben ist wie in jenen Monaten, in denen ihm ein großer Teil der Medien zujubelte.
Da hat er also vorgestern ein Redemanuskript aufgesagt, als sei es ein Gedicht. Und zwar im Versailler Schloss, wo sich aus diesem Anlass die Abgeordneten der Nationalversammlung und des Senats zum sogenannten Kongress versammelten. Sie hörten nicht viel mehr als die Wiederholung seines Wahlprogramms.
Noch bis zum Jahr 2008 war den Präsidenten der Zutritt zum Parlament nicht gestattet; eine Verfassungsreform Nicolas Sarkozys brach mit dieser seit 1875 währenden Tradition. Seither kann der Staatschef sich vor dem Parlament erklären – doch was wurde Macron nun vorgehalten? "Ausgerechnet nach Versailles", ins Schloss des Sonnenkönigs, habe er geladen, hieß es von ihm, dem unterstellt wird, er strebe ungeteilte Macht an. Dabei will es das Reglement, dass die Abgeordneten sich an diesen Ort begeben; dort sind sie im Übrigen die Hausherren und erteilen dem Präsidenten das Rederecht. Egal, schon war vom "Ende der Demokratie" die Rede.
Die Machtfülle des Präsidenten So ein Quatsch. Macron ist erst vorgeworfen worden, er hülle sich seit seiner Wahl in Schweigen. Jetzt tut er das Gegenteil, und wieder ist es nicht recht. Angekündigt hat er übrigens, von nun an jährlich vor den Kongress zu treten, ein bisschen
à l'américaine. Auch das wurde maliziös vermerkt. Zu viel Obama.
Kritisiert wurde außerdem, dass der Auftritt am Vorabend der programmatischen Rede des Premierministers Édouard Philippe stattfand und diesem damit die Schau stahl. Abgesehen davon, dass der einschläfernde Sermon des Präsidenten niemanden hätte in den Schatten stellen können, verkennt dieser Vorwurf, dass es ja gerade die Absicht des Duos Macron-Philippe ist, die klassische Arbeitsteilung einzuhalten: Der Präsident gibt die Linien vor und führt außerdem das Zepter in der Sicherheitspolitik, der Premier ist für die praktische Umsetzung zuständig. Auf diese Weise soll das von Charles de Gaulle gegründete System der Fünften Republik wiederhergestellt werden, an das sich Macrons Vorgänger nicht hielten; man erinnere sich: Nicolas Sarkozy fühlte sich auch für die alltäglichen Regierungsdetails zuständig und Hollande gab keine Strategien vor.
Der mittlerweile anschwellende Chor moniert außerdem, dass die absolute Mehrheit der Macronistas im Parlament nicht in ausreichendem Maße demokratisch legitimiert sei – nur eine Minderheit habe der neuen Machtkonstellation ihre Stimme gegeben. Doch dieser Einwand unterschlägt, dass die Franzosen im Jahr 2017 volle achtmal aufgefordert waren, sich an nationalen Wahlen zu beteiligen: in offenen und zweistufigen Primärwahlen der beiden großen Parteien sowie in den beiden zweistufigen Wahlverfahren für die Präsidentschaft und die Nationalversammlung. Gewiss, das Mehrheitswahlrecht verzerrt die Verhältnisse (Macron will es relativieren), aber es steht nun einmal in einer demokratisch legitimierten Verfassung.
Richtig ist allerdings, dass die Machtfülle des neuen Präsidenten durch zwei Umstände noch vergrößert wird: die Zersetzung der Opposition sowie die Kinderkrankheiten der Macron'schen Partei.
Noch hat Macron es nicht verdient, heruntergeschrieben zu werden Die Sozialistische Partei (PS) des Unglücksraben
François Hollande ist in rapider Auflösung begriffen. Ihr Präsidentschaftskandidat Benôit Hamon hat sie bereits verlassen, ebenso Hollandes einstiger Premierminister Manuel Valls. Die Parlamentarier der bürgerlich-konservativen Republikaner sind in zwei Gruppen gespalten. Die eine will Macron unterstützen, die andere wird von Teilen des Front National umworben. Der wiederum steckt in einer Krise. Für den FN hat es nicht einmal zur Fraktionsstärke in der Assemblée nationale gereicht; die eingeplante Staatsknete hat sich so sehr verdünnt, dass das traditionelle Sommertreffen mit der FN-Basis ausfallen muss; die Partei schottet sich ab und ficht in den eigenen Reihen Nahkämpfe aus. Selbst
die Insoumis des linksradikalen Jean-Luc Mélenchon machen eine schlechte Figur, obwohl sie doch in den Wahlen ganz ordentlich abgeschnitten hatten. Sie geben sich missgelaunt, motzen über die Anwesenheit der Europaflagge im Parlament und solche Sachen; man fragt sich, was mit ihnen los ist.
Diesen unattraktiven Truppen nun steht ein Macron-Block gegenüber, dessen Aktivisten und Parlamentarier überwiegend politische Neuankömmlinge sind. Da kann es nicht ausbleiben, dass sich innerhalb dieses Lagers eine Führungstruppe herausbildet, die das Spiel beherrscht und die Fäden zieht.
"Zu komplexe" Gedanken für ein Fernsehinterview Und wie das so ist: Macht verführt. Man fängt auf einmal an, mit der Presse arrogant umzuspringen, vielleicht auch, um nicht in die Kumpanei der Sarkozy- und Hollande-Zeiten zu verfallen – allerdings, wenn aus dem Élysée zu hören ist, der Präsident werde auf das traditionelle Fernsehinterview zum Nationalfeiertag verzichten, weil seine Gedanken "zu komplex" für ein Format aus Fragen und Antworten seien, dann klingelt etwas. "Ich appelliere, mit der pausenlosen Suche nach Skandalen aufzuhören", rief Macron am Montag aus – was die Tageszeitung
Le Parisien mit der Bemerkung konterte, er solle seinen Job machen, und sie mache ihren. Richtig: Auch dem Macronismus muss man auf die Finger sehen.
Um Frankreichs Demokratie braucht man sich gleichwohl keine Sorgen zu machen. Jedenfalls nicht größere als gewöhnlich. Der Test wird im Übrigen woanders stattfinden: auf der Straße. Dann nämlich, wenn Macron – mithilfe des Parlaments – die versprochenen Reformen des Arbeits- und Sozialrechts umsetzen will. Er hat angekündigt, den Großteil bis zum Herbst beschließen zu lassen. Auch insofern verhält er sich anders als seine beiden Vorgänger.
Es wird nicht an Stimmen fehlen, ihm deswegen autoritäres Regieren vorzuwerfen. Aber was wäre daran undemokratisch, dass ein gewählter Politiker das liefert, was er im Wahlkampf angeboten hat? Nein, noch hat Macron es nicht verdient, heruntergeschrieben zu werden.