| | Ascensión Mendieta während der offiziellen Beerdigung ihres Vaters Timoteo im spanischen Guadalajara am 1. Juli 2017 © Juan Medina/Reuters |
Sie hat ihnen die Türe geöffnet. Sie war dreizehn Jahre alt, als sie den Mördern ihres Vaters die Tür öffnete. Womöglich hat Ascensión Mendieta aus diesem Erlebnis den Antrieb für ihren jahrelangen Kampf geschöpft, der jetzt, am ersten Juliwochenende, mit dem Begräbnis ihres Vaters sein Ende fand.
In Spanien liegen heute noch geschätzt 114.000 Menschen in Massengräbern verscharrt. Bis Ende Mai war der Gewerkschafter Timoteo Mendieta einer von ihnen, nachdem er am 15. November 1939 mit Dutzenden anderen an die Wand des Friedhofs von Guadalajara gestellt worden war. Seine Tochter begann bald nach der politischen Transition Ende der siebziger Jahre, die Klinken der demokratischen Institutionen zu putzen, um ihn suchen und bergen zu lassen – vergeblich.
Hochbetagt schloss sie sich schließlich einer Klage der Vereinigung zur Wiedererlangung der Historischen Erinnerung (Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica, ARMH) in Argentinien an, wo seit 2010 eine strafrechtliche Untersuchung konkreter Menschenrechtsverbrechen des Franco-Regimes nach den Prinzipien der universellen Gerichtsbarkeit läuft.
Der spanische Staat leistet hingegen keinerlei strafrechtliche und eine nur unzureichende gesellschaftspolitische Aufarbeitung der Verbrechen Francos, der die politischen Gegner während Krieg (1936-1939) und Diktatur (1939-1975) systematisch terrorisieren und vernichten ließ.
Anders als Exhumierungen, die unter dem Schirm der internationalen Gerichtsbarkeit (z.B. Ex-Jugoslawien) oder als Teil einer institutionalisierten Erinnerungspolitik (z.B. Polen) stattfinden, sind spanische Grabungen bislang eine Bewegung der Zivilgesellschaft und wurden nur für kurze Zeit (2006-2011) und in geringem Umfang subventioniert. Die ARMH arbeitet mit Mitgliedsbeiträgen und Spenden, eine norwegische Gewerkschaft finanziert ihre Aktivitäten wesentlich mit. Weil bisher alle Grabungen private Angelegenheiten waren, ist die richterliche Anordnung im Fall von Timoteo Mendieta für die historische Aufarbeitung in Spanien so wichtig und wird als Meilenstein im Streben um Wahrheit, Wiedergutmachung und Gerechtigkeit betrachtet.
Allein der Friedhof von Guadalajara birgt mehr als 800 Tote in Massengräbern. Dutzende Opfer vom November 1939 liegen in vier Gruben aufgetürmt. Ascensión Mendieta flog an ihrem 88. Geburtstag nach Argentinien, um ihre Aussage zu machen, und im Januar 2016 konnte die Aushebung des Grabes Nummer zwei beginnen. Der Dokumentation zufolge sollte Timoteo Mendieta einer der Untersten sein. Es dauerte fast ein Jahr, bis die DNA-Analysen aus Argentinien kamen: negativ. Ascensión, zu diesem Zeitpunkt fast 90, erinnerte sich in der Enttäuschung plötzlich wieder, dass sie es war, die einst die Tür öffnete.
Sie, eine Tochter, ist in ihrer Rolle als Kämpferin untypisch. Repressionsopfer ihrer Generation tendieren zur Stille, zum Schweigen, und es sind zumeist Enkel und Urenkel, die sich für die Rehabilitation der Vorfahren einsetzen. Im Lauf der Jahre wurde sie zu einer Symbolfigur der Bewegung und erlangte große Bekanntheit. Sie ist telegen, stets modisch gekleidet, eine liebenswürdige und kommunikationsfreudige Person mit wachem Blick. Sie hat im Insistieren einen Umgang mit ihrem Schmerz gefunden, und ihrer humanen Sehnsucht, an der Seite ihres Vaters beerdigt zu werden, können sich selbst die harschesten Exhumierungskritiker kaum widersetzen. Sie erwirkte eine neuerliche Anordnung für das Grab Nummer Eins in Guadalajara.
Alle sollten kommen
Am 16. Mai dieses Jahres: Ein Mitarbeiter des ARMH exhumiert das Massengrab, in dem Timoteo Mendieta vermutet wird. © Juan Medina/Reuters
Die Annahme der Archäologen, dass Timoteo in der falschen Liste erfasst worden war, dass er nicht ganz unten im zweiten, sondern zuoberst im ersten Grab liegen könnte, erwies sich als korrekt. Die zweite Exhumierung war Ende Mai abgeschlossen, und am 9. Juni hatte Ascensión Mendieta die Sicherheit, dass ihr Vater gefunden und geborgen war.
Wie sie die Totenfeier gestalten wolle? Alle sollten kommen, sagte sie sinngemäß, und so ist Timoteo Mendieta nicht nur der erste Tote, dessen Exhumierung per Gerichtsbeschluss einen Präzedenzfall schuf, sondern auch der erste, der in einer Leichenhalle öffentlich aufgebahrt wurde, über seinen Sarg drapiert die Fahne der spanischen Republik. Einen Tag lang hielten Angehörige und Freunde Totenwache wie für einen "normalen" Toten, Jahrzehnte nach der Exekution. Im Leichenwagen wurde er tags darauf zum Almudena-Friedhof in Madrid gefahren und unter dem Applaus Hunderter Anwesender zum Familiengrab der Mendietas getragen. Seine Tochter winkte mit Blumen in den Farben der Republik.
Die Beerdigungsfeier drehte sich wie ein Wirbel um die gebrechliche Neunzigjährige am offenen Grab ihres Vaters, die in der Rohheit ihres Schmerzes für Momente wieder zum Kind zu werden schien, als sei die Zeit aufgehoben. Die Reden oszillierten zwischen Befriedigung angesichts des Vollbrachten sowie Anerkennung der Leistung von Angehörigen und Aktivisten einerseits und dem Bewusstsein andererseits, wie mühselig der gesellschaftliche Weg zu Aufarbeitung und Aussöhnung immer noch ist. Timoteos Enkel äußerte seine Entrüstung über die verweigerte Unterstützung staatlicherseits, und es war einmal mehr eine skandalöse Selbstverständlichkeit, dass staatliche Institutionen nicht vertreten waren und auch nicht Mendietas Gewerkschaft UGT.
Die Intimität persönlicher Trauer stand in Kontrast zum großen Medieninteresse und der Öffentlichkeit des Ereignisses, die verschiedene Gruppierungen für ihre Anliegen zu nutzen versuchten. Man ließ die Republik hochleben, manche skandierten, geschlossene Gräber seien offene Wunden, in einer möglicherweise unfreiwilligen Umkehrung des Arguments, dass man durch Öffnen der Gräber Wunden schließen könne. Andere forderten spontan eine Schweigeminute für all jene, die noch nicht gefunden sind, was unmittelbar verpuffte, weil sich Ascensión Mendieta, mit ihrem republikanischen Strauß Blumen noch immer im Arm, gerade auf den Rückweg durch die Menge machte.
Wie unter einem Brennglas leuchtete an jenem Sonntag auf, was die Bewegung der historischen Erinnerung, auch dank der Ausdauer, Unerschrockenheit und Medientauglichkeit von Ascensión Mendieta bisher hat erreichen können – und wie viel noch unerreicht bleibt, blockiert von der Aufarbeitungsverweigerung und der Geschichtsvergessenheit weiter Teile der spanischen Gesellschaft und ihrer Institutionen.
Ascensión Mendieta beerdigte ihren Vater im klaren Bewusstsein, dass es nicht mehr lange hin sein dürfte, bis sie an seiner Seite liegen wird. Diesen Wunsch hat sie sich erfüllt. Es schließt sich eine Tür, die Trauerarbeit kann beginnen. Verena Boos ist Historikerin und Schriftstellerin. Sie hat die Romane "Blutorangen" und "Kirchberg" (Aufbau-Verlag) verfasst. Derzeit ist sie "Memory Work"-Stipendiatin der Bundesstiftung Aufarbeitung und forscht über Erinnerungskultur und Gedächtnispolitik in Spanien. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8". Sie wollen der Diskussion unter dem Text folgen? Hier geht es zum Kommentarbereich. |
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