Dass Etiketten schwindeln, wissen wir nicht erst, seitdem die EU beschlossen hat, "Tofu-Käse" könne Nicht-Veganer auf kulinarische Abwege führen. Wenn all die romantischen Momente und bombastischen Orgasmen wahr würden, die uns noch so abwegige Produktetiketten jeden Tag in Aussicht stellen, wir wären ein Land der Bonobos. Die unverrückbar nüchterne Verbraucherrealität hat uns also Skepsis darüber gelehrt, ob die Zerealien tatsächlich in die Milch gefallen sind und die Kühe zuvor wirklich friedlich auf der Alm gegrast haben. Wir gehen schon lange nicht mehr davon aus, dass das drin ist, was drauf steht.
Vielleicht sollten wir etwas von dieser Skepsis auch in den Raum öffentlicher Rhetorik retten. Insbesondere dann, wenn Leute nicht müde werden, Selbstverständlichkeiten für sich zu reklamieren. Seit ungefähr zwei Jahren ruft in Deutschland mindestens einmal am Tag jemand die "offene Gesellschaft" aus. Wenn die cabin crew im Flugzeug immer wieder durchsagte, dass dieses Flugzeug fliegen könne, würde uns dann nicht ein wenig mulmig werden?
Das Problem ist natürlich nicht die "offene Gesellschaft". Das Problem ist, was in ihrem Namen getan wird, zum Beispiel die Sitten der einen gegen die Sitten der anderen auszuspielen. Der Handschlag allein solle deutsch sein, nicht aber die Hand zum Herzen, wenn es nach dem Innenminister geht. Verschleierung sei nur deutsch genug, wenn das Gesicht frei bleibe.
Nähme sich die "offene Gesellschaft" beim Wort, müsste sie jeder Person die freie Wahl über ihre politischen, religiösen und kulturellen Anschauungen und Ausdrucksformen lassen – solange diese niemand anderen schädigen, jederzeit frei wählbar sind und ablegbar bleiben. Ob eine bestimmte Konvention dann besonders "deutsch" ist oder nicht, wäre nicht Gegenstand der Diskussion um die offene Gesellschaft.
Die Leitkulturdebatte aber versteht sich darauf, die Grundstrukturen unserer Gesellschaft mit Deutschtum anzudicken. Es scheint also nicht darum zu gehen, den Grundsatz der offenen Gesellschaft – dieselben Freiheiten für alle – gegen jene zu verteidigen, die diese tatsächlich angreifen (zum Beispiel Islamisten und Rechtsradikale, die das Patriarchat restaurieren wollen), sondern darum, die deutschen Sitten zur Verkörperungverwirklichter Freiheiten zu erklären – in Thomas de Maizières Worten: "Wir legen Wert auf einige soziale Gewohnheiten, nicht weil sie Inhalt, sondern weil sie Ausdruck einer bestimmten Haltung sind" – nämlich Ausdruck der offenen, freiheitlichen Gesinnung.
Dabei führt uns bereits eines der frühesten und nach wie vor kraftvollsten Verteidigungsschriften des Liberalismus – John Stuart Mills Über die Freiheit von 1859 – vor, dass individuelle Freiheit gerade gegen die Sitten und Anschauungen der Mehrheit behauptet werden muss. Mill zufolge besteht das Herzstück der liberalen Gesellschaft darin, einen "Schutz gegen die Tyrannei des vorherrschenden Meinens und Empfindens" zu errichten, "gegen die Tendenz der Gesellschaft (...), ihre eigenen Ideen und Praktiken als Lebensregeln denen aufzuerlegen, die eine abweichende Meinung haben". Immer unter der Maßgabe, dass unkonventionelle Ansichten und Gepflogenheiten dem Freiheitsprinzip entsprechen, also niemand anderen schädigen (außer im Zweifelsfall die Betreffenden selbst).
Mills emphatischem Plädoyer für einen Pluralismus der Lebensformen liegt eine wichtige Überzeugung zugrunde, eine, die an Aktualität seither noch hinzugewonnen hat: dass Freiheit unterschiedliche Ausdrucksformen kennt, auch solche, die wir auf Anhieb vielleicht nicht verstehen.
Das heißt nicht, dass wir unterschiedliche Lebensformen – unsere eigene stets inbegriffen – in ihren Widersprüchlichkeiten und Anachronismen nicht kritisieren können und sollen. Diese Überzeugung mahnt uns vielmehr, die eigenen Konventionen nicht zum Konventionalismus werden zu lassen, sie also nicht in paternalistischer Manier zu verallgemeinern. Denn wenn wir unsere eigenen Ansichten und Gepflogenheiten zum Maßstab für andere machen, dann verteidigen wir nicht den Grundsatz geteilter Freiheit, sondern wir verabsolutieren unseren eigenen Geschmack, unsere Sympathien und Antipathien.
Die offene Gesellschaft unter die Maßgabe deutscher Sitte zu stellen, muss sich also zwangsläufig in einen Widerspruch verfangen, weil diese Interpretation missversteht, dass Freiheit und Sitte nicht auf demselben Level rangieren, sondern Freiheit eine Ermöglichungsbedingung unterschiedlicher Lebensformen und Anschauungen ist.
Ein Etikett markiert keine Zustandsbeschreibung Nun könnte man meinen, dieses Missverständnis einmal aufgedeckt, sei alles tutti mit der freiheitlichen Gesinnung unserer offenen Gesellschaft. So einfach ist es aber nicht. Denn der Vorschlag, deutsche Gewohnheiten als Manifestationen verwirklichter Freiheit auszulegen, berührt unser historisch gewachsenes Selbstverständnis noch auf einer profunderen Ebene: Er knüpft unmittelbar an die tradierte Auffassung an, dass unsere westlichen Gepflogenheiten – und nur diese – als Resultat eines langen Aufklärungsprozesses betrachtet werden dürfen und wir unsere Sitten und Konventionen deshalb mit gutem Grund als denen anderer überlegen verstehen können.
Das Problem an dieser Figur ist nicht, dass sie an der Aufklärung festhält. Ganz im Gegenteil ist das Problem, dass sie dieses Erbe viel zu leicht nimmt. Sie hält sich an eine ungebrochene Fortschrittsgeschichte und verkennt so die tiefe und systematische Ambivalenz des Aufklärungsprozesses. Sie blendet aus, dass der mühsame Kampf um die Einführung und partielle Verwirklichung der allgemeingültigen Grundsätze Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zum einen auf dem Rücken der Kolonisierten ausgetragen wurde und wird. Die teilweise "aufgeklärten" Gesellschaften zum anderen niemals vor himmelschreienden Rückschritten und Verbrechen gefeit waren. Und sie fragt nicht danach, inwiefern dieses Erbe immer noch unverwirklichte Aufgabe bleibt.
Natürlich sind die Gründe für gesellschaftlichen Regress immer in spezifischen historischen Situationen zu suchen. Die Annahme, dass die gesellschaftliche Immunisierung gegen innere und äußere Kritik jedoch eine bedeutsame Rolle für Rückschritte spielt, liegt nahe. Sich als jüngstes Kind einer geradlinigen Fortschrittsgeschichte zu begreifen, gibt nun aber genau jener Selbstherrlichkeit Auftrieb, die sich gegen Kritik durch andere verwahrt und so zum Motor der dialektischen Verkehrung der freiheitlichen Gesinnung in ihr Gegenteil wenden kann (wir sollten Adorno wieder lesen). Die eigenen Konventionen unkritisch als Früchte der Aufklärung zu verstehen, ist brandgefährlich, weil dieses Verständnis jenes Überlegenheitsgefühl anfüttert, das zu unterschiedlichen historischen Momenten Gewaltverhältnisse und Katastrophen unterschiedlichen Ausmaßes begünstigt hat.
Das tieferliegende Problem mit dem Etikett der "offenen Gesellschaft" ist also, dass es den Eindruck erweckt, die Offenheit einer Gesellschaft sei eine bereits erlangte Errungenschaft, die uns gegenüber anderen auszeichnet. Ein Etikett markiert eben eine Wesensbeschreibung, keine Zustandsbeschreibung. Wenn Erdbeermarmelade auf dem Glas steht, dann fürchten wir nicht, dass am nächsten Tag Orangenmarmelade im Glas steckt. Wir stellen uns vielleicht die Frage, ob echte Erdbeeren oder doch Aromen und Farbstoff den Geschmack ausmachen und ob wir uns deshalb empören sollten, aber wir zweifeln nicht am Charakter der Marmelade. Genau dieses Zutrauen in die Robustheit eines ausgebildeten Charakters ist im Raum des Gesellschaftlichen aber eine große Gefahr, manchmal sogar der Anfang vom Ende der Freiheit.
Wir müssen also nicht nur die gesunde Konsumentenskepsis über die Entsprechung von Etikett und Ware ins Gesellschaftliche hinüberretten. Wir müssen uns sogar fragen, welche Wirkung das Etikett auf den Inhalt hat. Spätestens dann also, wenn ein undifferenziertes Urteil über die verwirklichte Offenheit unserer Gesellschaft zur Beschreibung ihres angeblich gefestigten Wesens erhoben und in einen rhetorischen Feldzug gegen andere getragen wird, spätestens dann müssen wir nach den blinden Flecken und möglicherweise blutigen Effekten dieser Etikettierung fragen. Lassen wir diese Frage zu, dann haben wir eine reale Chance, eine offene Gesellschaft zu werden.
Simone Rosa Miller lebt als freie Autorin in Berlin. Sie arbeitet als Kulturredakteurin beim Deutschlandradio Kultur, wo sie u. a. die Philosophiesendung "Sein und Streit" moderiert. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".
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