Hilfspaket für Europas Zivilgesellschaft Die EU wird mehrheitlich von der Wirtschaft geprägt. Um aber das Gemeinschaftsgefühl der Bürger zu stärken, brauchen wir einen europäischen Feiertag! VON PRIYA BASIL |
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| | "Ein neues, dynamisches EU-Symbol muss her", meint Priya Basil. © privat |
Strahlend blau mit goldenen Sternen entfaltet sich die Europaflagge, die ich mir von einem Nachbarn ausgeliehen habe. Ich versuche zu lächeln. Ein Freund soll mich für Kampagne fotografieren, die ich ins Leben gerufen habe und die einen europäischen Feiertag fordert. Doch dieses vertraute Symbol – Schmuck der Bürokratie, Zierde der Einheit – wirkt auf mich so unpersönlich, so leer, und ich frage mich: Kann ich das wirklich?
Trotz meiner Beschäftigung mit der EU und trotz meines Engagements für sie verunsichert mich ihre Flagge zutiefst. Am liebsten wäre mir, das Ding würde verschwinden. Ich will mich nicht wie eine Politikerin danebenstellen und für Fotos posieren. Zu sehr ist dieses Stück Stoff mit Assoziationen aufgeladen – besseren und schlechteren –, die ich nicht beeinflussen kann. Die befremdliche Nähe zur Flagge bestärkt mich in meinem Gefühl, dass wir ein neues, dynamisches EU-Symbol brauchen. Eines, das den Begriff von Einheit in Europa erweitert und Gemeinschaft anschaulich macht.
Die Kamera klickt, und ich bekomme doch noch ein Lächeln hin: Ich stelle mir ein großes gemeinsames Fest Ende Mai vor, bei dem wir Europäer – also alle, die in der EU leben – einander und unsere Union feiern. Manche Menschen bleiben zu Hause in ihren Straßen, andere nutzen die europaweit kostenlosen öffentlichen Verkehrsmittel, überall aber gibt es kulturelle und politische Veranstaltungen rund um das Thema EU. Auf diese Weise verkörpern wir alle zusammen Frieden und Vielfalt, Freiheit und Wohlstand, Offenheit und Solidarität, kurz: die Ideale der EU. Ohne eine solche offizielle Feier wird unsere Gemeinschaft viel zu einseitig von der Wirtschaft definiert. Ein europäischer Feiertag eröffnet uns einen Raum für unsere Bürgergemeinschaft. Er befördert eine europäische Zivilgesellschaft, die das Potenzial hat, nicht nur uns alle, sondern auch die EU zu verändern und damit unsere Demokratie zu verbessern.
Welches andere bereits vorhandene Symbol, frage ich mich, steht unmittelbar, greifbar und umfassend für die Union? Nur Euromünzen und -scheine. Sich damit fotografieren zu lassen, wäre noch schlimmer, denke ich, als die Kamera surrend heranzoomt. Bei dem Gedanken daran, ausgerechnet mit Geld für mehr Einheit zu werben, verziehe ich fast das Gesicht. Wobei – Moment mal! –, genau das hat die EU seit ihrer Gründung doch immer wieder gemacht. Entstanden aus der Prämisse, dass engere Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Nationen einen Krieg zwischen ihnen unwahrscheinlicher machen würde, hat es die EU niemals wirklich geschafft, mehr als eine ökonomische Gemeinschaft zu werden. Sicher, es gibt einen gemeinsamen rechtlichen und bis zu einem gewissen Maße auch gesellschaftlichen Rahmen, beide aber sind im Vergleich zu den Handelsstrukturen zweitrangig. Sicher, es gibt noch andere Symbole der Gemeinschaft außer der Flagge und dem Euro, darunter das Motto "In Vielfalt geeint" und die Hymne Ode an die Freude – das alles jedoch ist reine Schönfärberei des Binnenmarkts, der auch weiterhin die wahre Daseinsberechtigung der EU und die treibende Kraft hinter all ihren politischen Entscheidungen darstellt.
Gilt die Wirtschaft als vorherrschendes Leitprinzip, werden auch Menschen früher oder später wie Waren behandelt. Das zeigt sich derzeit an den verhaltenen Garantien Großbritanniens für EU-Bürger auf britischem Boden. Anstatt die Individualrechte zu betonen und zu schützen, setzt die Regierung unter Theresa May sie als Pfand in den Brexit-Verhandlungen ein: Bürger sind nur in dem Maße wertvoll, in dem sie zum ökonomischen Vorteil gereichen. Die EU dagegen zeigt eine lobenswert prinzipientreue Haltung in dieser Sache, doch wenn sich am Aufbau der Union nichts ändert, riskiert auch sie, die Gesellschaft der Wirtschaft dauerhaft unterzuordnen.
Bis zu einem gewissen Maß hat es sich bislang ausgezahlt, für die Stabilität in Europa auf wirtschaftliche Verbindungen zu setzen. 70 Jahre Frieden sind durchaus beachtlich. Und jetzt ist das Durcheinander der Brexit-Verhandlungen eine heilsame Lehre dafür, wie verflochten die Staatengemeinschaft inzwischen ist, und wie schwierig es ist, sie zu verlassen. Aber der Brexit warnt auch davor, dass ökonomische Bindungen nicht ausreichen, dass Menschen eine andere, persönlichere und emotionalere Beziehung zum Projekt der EU brauchen. Aus diesem Grund schlage ich einen europäischen Feiertag vor. Einen Tag, um unsere "geeinte Vielfalt" in allen Mitgliedsstaaten auf eine nie dagewesene Weise zu demonstrieren: gleichzeitig, öffentlich und offen für alle.
Nur ein Lippenbekenntnis für Europa?
Ich bin überzeugt, dass die politische Klasse – wenn sie sieht, wie die Bürger die EU feiern und eine europäische Identität entwickeln – gezwungen sein wird, mehr im Interesse der Union zu handeln und weniger die nationalen Interessen ihrer vermeintlich europamüden Bevölkerung zu wahren. Noch immer breitet sich der Nationalismus in Europa aus, und dennoch scheint Emmanuel Macrons Sieg in Frankreich nach einer offen proeuropäischen Kampagne manche in falscher Sicherheit zu wiegen, was die Zukunft Europas betrifft. Vielleicht hatte der Anblick des französischen Präsidenten und der deutschen Bundeskanzlerin bei ihrer ersten gemeinsamen Pressekonferenz zum EU-Gipfel etwas Beruhigendes. Immerhin standen die beiden eng zusammen, beinahe schienen sie miteinander zu turteln und zu gurren.
Doch jeder, der genauer hinsieht, weiß, dass diese beiden nicht wirklich vom selben Blatt singen. Macron schmetterte eine Arie des Wandels, voller forscher Maßnahmen, um unsere Einheit zu verbessern, bis hin zum Transfer nationaler Kompetenzen – der Steuererhebung etwa – nach Brüssel. Merkel zeigte ihre Raute und beantwortete die Frage, ob sie Vertragsänderungen zustimmen würde, um Macrons Ziele zu erreichen, mit einem Satz, der mir nicht aus dem Kopf geht: "Wo es nötig ist, wird man es tun. Wo es nicht nötig ist, wird man es nicht erzwingen."
Wischiwaschi vom Feinsten, geboren aus der folgenden Überzeugung: Jetzt, wo diverse Hürden genommen scheinen (der Brexit ist, wie er ist; der Flüchtlingsdeal mit der Türkei ist, wie er ist; das Visegrád-Demokratieverständnis ist, wie es ist …), und im Vorwege der Bundestagswahlen reicht für Europa ein Lippenbekenntnis, mehr aber braucht es nicht. Unter Merkel gibt es keine mutige Vision für Europa und wird sie nie geben. Unter Merkel bedeutet die EU "Germany first". Wenn wir als Bürger eine fantasievollere, inspirierendere Union wünschen, wenn wir möchten, dass andere Werte die europäische Politik bestimmen, wenn wir ein echtes Miteinander wollen – also eines, das auf Mitgefühl, Teilhabe und gegenseitigem Vertrauen fußt –, müssen wir selbst tätig werden. Auch wenn das unbequem ist.
Denn eine noch so virtuose Solovorstellung – selbst von einem französischen Präsidenten, der Sprechunterricht bei einem Opernsänger genossen hat – wird die EU nicht verändern. Ja, ich wage zu behaupten, dass auch ein wirklich harmonisches französisch-deutsches Duett die EU nicht in größeren Einklang zu bringen vermöchte. Für dieses Projekt braucht es einen Chor. Und ein sicherer Weg, Harmonie zwischen den verschiedenen Regierungsoberhäuptern herzustellen, ist, ihre Bürger aufeinander einzustimmen – mit einem europäischen Feiertag. Dieser Tag könnte die große polyphone Ouvertüre zur Neukomposition der EU sein, die wir so dringend brauchen.
Alle, die sich fragen, woher die finanziellen Mittel für eine solche Feier kommen sollen, weise ich auf den Überschuss von knapp 15 Milliarden Euro hin, die für den deutschen Haushalt zwischen 2019 und 2021 erwartet werden. Jüngste Zahlen, die das Finanzministerium vorgelegt hat, zeigen, dass die Summe noch nicht zugewiesen ist. Ich bin der Meinung, dass Deutschland mit seiner starken Zivilgesellschaft, mit seiner Verpflichtung zur Erinnerung und seinem ureigenen Bedürfnis, Europa mit offenen Armen zu begegnen, eine besondere Rolle dabei spielen muss, die EU von unten aufblühen zu lassen. Hier in Deutschland investiert der Staat in die Zivilgesellschaft, und ich vermute, viele Deutsche gehen davon aus, dass andere Regierungen es genau so machen. Nicht so jedoch in Großbritannien – und ich bezweifle, dass die Briten unter den EU-Mitgliedern eine Ausnahme darstellen. Geht man es richtig an, bietet der europäische Feiertag Millionen von Menschen erstmals die Gelegenheit – auf unterhaltsame Weise, mithilfe von Kultur und Begegnungen –, sich mit Fragen von Bürgerschaft, Rechten und Pflichten und nicht zuletzt mit der wichtigsten Herausforderung unserer Gemeinschaft auseinanderzusetzen: Wie kann eine Identität entstehen, die Landesgrenzen hinter sich lässt?
Allen, die denken: "Aber Deutschland kann nicht alles allein zahlen!", sage ich, dass auch andere Länder durchaus etwas herausrücken können, wenn es nur wichtig genug ist – wie es sich zuletzt etwa bei dem 17-Milliarden-Hilfspaket der italienischen Regierung für zwei Banken zeigte, die als "systemrelevant" gelten. Ich bringe das Thema nur ungern auf, aber die scheußliche Saga der Finanzkrise von 2008 ist leider bei Weitem nicht vorbei: Immer noch retten Regierungen Banken mit Steuergeldern ihrer Bürger.
Es gibt noch ein anderes Gebilde, das systemrelevant ist: die europäische Zivilgesellschaft. Sie gilt es zu retten, koste es, was es wolle, bevor sich alles, was ihre einzelnen Teile noch zusammenhält, aus Nachlässigkeit in Wohlgefallen auflöst. Die Gewährsleute der Banken, die Hamsterer von Haushaltsüberschüssen werden auch zukünftig über uns wachen – solange wir uns nicht zusammentun und uns selbst mit der klaren Forderung nach einem großzügigen, wunderschönen Hilfspaket beispringen: einem europäischen Feiertag.
Aus dem Englischen übersetzt von Beatrice Faßbender
Priya Basil ist eine britisch-indische Schriftstellerin. Sie ist in Kenia aufgewachsen, studierte in Großbritannien und lebt heute in Deutschland. Sie veröffentlichte zwei Romane und eine Erzählung sowie verschiedene Essays und Artikel. 2010 war sie Mitgründerin von "Authors for Peace" und engagiert sich heute unter anderem in der "Wir machen das"-Initiative. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8". Sie wollen der Diskussion unter dem Text folgen? Hier geht es zum Kommentarbereich. |
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