10 nach 8: Annett Gröschner über die Berliner Volksbühne

 
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03.07.2017
 
 
 
 
10 nach 8


Meine Jahre am Rosa-Luxemburg-Platz
 
Castorfs Volksbühne ist Geschichte. Und sie war ganz bestimmt nicht bloß ein Provinztheaterschuppen ostidentitärer koksender Pseudointellektueller. Sie wird weiterleben.
VON ANNETT GRÖSCHNER

Der Intendant Frank Castorf (Mitte) verabschiedet sich am 1. Juli nach seiner letzten Vorstellung an der Volksbühne © Paul Zinken/dpa
 
Der Intendant Frank Castorf (Mitte) verabschiedet sich am 1. Juli nach seiner letzten Vorstellung an der Volksbühne © Paul Zinken/dpa
 
 

Schon völlig trunken von den vielen letzten Vorstellungen, die ich in den vergangenen Wochen an der Volksbühne erlebte, sah ich an meinem vorletzten Abend Bert Neumann. Das Licht war schon ausgegangen, als er sich als Letzter durch die Reihe 13 in die Mitte schob, wo der Platz 1 links auf den Platz 1 rechts trifft, eine Kuriosität der Volksbühnenbestuhlung. Eine Strähne des zurückgekämmten Haares fiel ihm ins Gesicht und bei jedem, der ihm Platz machte, bedankte er sich, ehe er in der Masse verschwand.

Ich wusste natürlich, dass er es nicht sein konnte. In diesem Monat ist er, für dessen Charakterisierung die Worte Ausstatter oder Bühnenbildner viel zu wenig waren, zwei Jahre tot. Sein letztes grandioses Bühnenbild wurde ohne ihn gebaut – die Asphaltschräge, die auf der Bühne endete und die Schauspieler näher an die Zuschauer band, die kyrillische Colareklame und das schwarze Lametta an den Wänden, das aussah wie Magnetband – vielleicht ist es ja auch bespieltes Material, das abzuspielen nur niemand ausprobiert hat. Bert Neumann hat das Ende seines Theaters nicht mehr erlebt. Die allabendlichen emotionalen Überforderungen, bis auch das letzte Stück abgespielt war. Das monatelang ausverkaufte Theater. Kurz vor seinem Tod hatte er angekündigt, lieber ein Tattoostudio zu eröffnen, als für den neuen Intendanten Chris Dercon zu arbeiten. Ich hätte mir von ihm ein Tattoo stechen lassen: "Die Katze Erinnerung".

Mein Leben an der Volksbühne begann 1983 mit Macbeth von Heiner Müller. Corinna Harfouch als schwangere Lady Macbeth. Mir, die ich ein Jahr in einem Provinztheater als Ankleiderin gearbeitet hatte, war plötzlich klar, was Theater sein konnte. Nie wieder habe ich einen besseren Macbeth gesehen. Nach Heiner Müller kam eine große gepflegte Langeweile an der Volksbühne, ich wechselte als Zuschauerin ins Deutsche Theater und als Kinogängerin ins Babylon. Den ersten Castorf sah ich in Frankfurt/Oder am Kleisttheater, das es schon lange nicht mehr gibt.

In der Volksbühne trafen wir uns am 3. Dezember 1989, um die Gründung eines Unabhängigen Frauenverbandes zu beschließen. Wir waren eintausend Frauen, und zum ersten Mal stand ich dort auf der Bühne und sah, wie gigantisch groß sie war. "Man muss einen Wurf zur Welt entäußern, nur dann hat man auf der Riesenbühne eine Chance", hat Frank Castorf vergangene Woche in einem Fernsehfeature gesagt.

Anfang der neunziger Jahre saß ich mit dem Schriftsteller Michael Peschke im Parteiarchiv an der Prenzlauer Allee, in dem heute der exklusive Jetsetclub Soho residiert. Endlich konnten wir alle Akten bestellen, die uns schon immer interessiert hatten. Von der Kantine im obersten Stock konnte man direkt auf die Volksbühne sehen und Micha erzählte von seinen Recherchen über den Kommunisten Otto Katz, dessen Asche nach den großen Schauprozessen in der CSSR und seiner Verurteilung zum Tode dem Straßenbelag untergemischt worden war. Die Recherchen waren kompliziert, weil Katz viele Namen und Identitäten hatte. Peschke machte das im Auftrag der Volksbühne. Das Material wurde 1993 von Frank Castorf für die berühmte Aufführung von Clockwork Orange verwurstet. Die Inszenierung war großartig, aber Katz war durch den Fleischwolf gedreht. Peschke verließ das Theater. Es gelang ihm nie, das Buch über Otto Katz fertigzustellen. Er starb ähnlich früh wie Bert Neumann.

Es waren die Jahre der Räuber und der Weber, von Marthalers Murx den Europäer, von Kriegenburg und Schlingensief, der Praterspektakel, der Rosenkriege und Kresnik, von Anna Viebrock und Penelope Wehrli, von Hübchen, Meyerfeldt, Angerer, Rois und Schütz, der Obdachlosen und der Behinderten. Mit René Polleschs Diskurstheater trat die Souffleuse ins Rampenlicht. Es war Theater als Produktion von Wirklichkeit, wie der Chefdramaturg Carl Hegemann damals verkündete. Und immer die Möglichkeit einer anderen Republik als der realen im Kopf, in der wir gestrandet waren, einer aus dem Geiste derer, die in der Kantine und hinter der Bühne die große Demonstration am 4. November 1989 ausgekungelt und erkämpft hatten. Auch wenn das immer länger her war. Es war klug und großartig, überdreht und bösartig. Manchmal empörend. Nichts für Theaterkonsumenten. Das Haus wurde zum Magneten, auch für mich.

Nicht in den guten Klamotten

Es war auch die Zeit, die der Volksbühne den Namen gegeben hat, der jetzt von Chris Dercon in einer seiner ersten Amtshandlungen wieder rückgängig gemacht wird: Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Als Anfang der neunziger Jahre ein Kampf um die Umbenennung von Straßen im Ostteil der Stadt tobte, war auch der Rosa-Luxemburg-Platz und die angrenzende gleichnamige Straße ins Visier der Unabhängigen Kommission zur Umbenennung von Straßen geraten. Also beschloss die Volksbühne, sich kurzerhand den Beinamen der ermordeten Revolutionärin zu geben, der auch nicht hätte getilgt werden können, wäre der Platz wieder in Bülowplatz umbenannt worden.

In den ersten Jahren durfte man nicht in den guten Klamotten kommen, weil, wer eine Karte in den ersten Reihen erwischt hatte, immer etwas vom Schmadder auf der Bühne abbekam. Mehl, Schaum, Theaterblut, Konfetti, Kartoffelsalat. Irgendwann hat das aufgehört, es muss schleichend passiert sein.

Ich hatte meine Durststrecken der Begeisterung, aber ich habe nie den Saal vor Ende des Stücks verlassen. Ich konnte gut in Castorf-Aufführungen schlafen, ohne dass die Inszenierung für mich Schaden nahm. Es waren Powernaps, die zu mehr Aufmerksamkeit führten. Während des letzten Stücks, das ich sah, Kabale der Scheinheiligen,träumte ich, die Schauspieler stünden nackt zwischen den Zuschauern. In Wirklichkeit waren sie angezogen und durch die permanente Überforderung viel nackter, als wenn sie wirklich nackt gewesen wären.

In den letzten Wochen wurde der Streit um den neuen Intendanten oft als einer zwischen Stadttheater und Kuratoreneventbude beschrieben, wobei die Volksbühne den Part des Stadttheaters einnahm. Die Sache ist aber komplizierter, denn die Volksbühne hatte in den 25 Jahren alles im Spielplan, auch performative Installationen und kuratierte Räume. Im Volkspalast wurde 2004 die Hülle des Palastes der Republik bespielt und mit der von Bert Neumann aus Bauwagen gebauten Rollenden Roadshowfuhr das Theater zu Beginn des neuen Jahrtausends an die theaterresistenten Ränder der Stadt. Gegenden, in denen noch niemand den Namen Volksbühne gehört hatte und wo man das, was auf der Bühne verhandelt wurde, ganz wörtlich nahm. Wenn Jürgen Kuttner bei seinen Videoschnipselvorträgen in schnodderigem Ton des Urberliners rief: "Mädels, werft eure BHs auf die Bühne", dann flogen sie eben auch wirklich.

Die Rollende Roadshow kam als Wanderzirkus und fand großartige Talente unter Jugendlichen, die noch nie ein Theater von innen gesehen hatten. 2002 war ich mit dabei und schrieb die frühe Form eines Blogs für die Homepage des Theaters. Wir blieben mehrere Tage auf der Autobahnplatte von Neubritz. Es war gerade Fußball-WM, die Mädchen rannten mit türkischen Fahnen durch die Gegend, und als die Türkei ausschied, wechselten sie sie gegen eine schwarzrotgoldene und waren Deutschlandfans. Irgendwie bewunderten wir sie, uns war das nicht so leicht gefallen. Es waren raue Gegenden, nichts für klassische Theatergänger, aber umso mehr für Bert Neumann.

Im Sommer 2015, 14 Tage nach seinem Tod, fuhr ich mit der Straßenbahn durch Hohenschönhausen, einen Plattenbaubezirk im Nordosten Berlins. Mir gegenüber saß eine seiner ehemaligen Bühnenbildassistentinnen. Als wir an einen Platz mit Kiosken und Hochhäusern kamen, stieg uns ein Kloß in den Hals. Es war ein Anblick, den wir für immer mit Bert Neumann verbinden würden. Vor uns breitete sich das Leben in Provisorien aus, das uns mehr interessierte als Schlösser oder Villen – nicht fertiggestellte oder entmietete Plattenbauten, Kioske und Würfelbuden, oder auch Bungalows der Marke Rheinsberg, Baracken und aserbaidschanische Bushäuschen. Hässliche Orte voller Leben.

Genau dort liegt der Unterschied zu Chris Dercon. Nichts war beliebig, alles hatte einen Bezug zur Realität, zum Hier und Jetzt und zu denen, die keine Gewinner der Verhältnisse waren und sind. Damals dachte ich insgeheim, dass es vielleicht besser war, theaterresistente Gegenden nicht mit Theater aufzuwerten, das zahlungskräftigeres Klientel anzog, kurz, Teil der Gentrifizierung zu sein, ein Wort, das damals noch ein Fachbegriff war. Aus der Roadshow heraus entwickelte die Dramaturgin Hanna Hurtzig ihre Mobile Akademie, die seitdem durch die ganze Welt tourt.

Kein Theater war wie die Volksbühne


Martin Wuttke (vorn) als Holofernes und Birgit Minichmayr als Judith 2016 im gleichnamigen Stück an der Volksbühne © Klaus-Dietmar Gabbert/dpa

Im Mutterhaus kamen die Zeiten der russischen Romanadaptionen, der Neustadt, der Pratersaga, der Gottscheff-Inszenierungen, es kamen Minichmayr, Beglau, Scheer und Spassova, Finzi, Hinrichs, Macras und Meese. Dann kam der Umbau und die Agora vor dem Haus.

Um 2009 herum hörte ich auf, in die Volksbühne zu gehen. Das generalüberholte Haus kam mir wie ausgehöhlt vor, an seinen eigenen Parolen erstickt, zum Stadttheater verkommen, das ich aus meiner Ankleiderinnenzeit kannte. Auch Bert Neumann legte die Leitung nieder und wandte sich anderen Projekten zu. Um zwei Jahre später doch wiederzukommen. Ich arbeitete am Gorki, am Theater an der Parkaue, am Deutschen Theater, performte mit She She Pop im Hebbel am Ufer. Ich war, bis auf gelegentliche Videoschnipselvorträge von Kuttner und Diskursstücke von Pollesch, kaum noch zu Gast. Es war eine Zeit, in der auch Schauspielerinnen und Schauspieler das Haus verließen, ohne die ich mir die Volksbühne nicht hätte denken wollen. Aber kein Theater war wie die Volksbühne, immer fehlte etwas.

Wäre Castorf damals abgesetzt worden, es hätte mich nicht so berührt wie die Ankündigung des Rauswurfs 2015, als das Haus an die großen Momente der neunziger und nuller Jahre angeknüpft hatte. Die Volksbühne stand wie auferstanden gegen den trendigen Lifestyle, der die Stadt in ein Schaufenster verwandelt. Für "die Gegenbewegung, die der Kunst den politischen Anspruch zurückerobert".

Nicht reibungslos, aber produktiv

Mit der Zerstörung des Ensembles wird auch ein Modell von Theater vernichtet, das mehr war als Stadttheater, das es nur als Vehikel für etwas viel Umfassenderes benutzte. Es war ein Geflecht von Theaterformen, von Konzerten, Lesungen, politischen Diskursen, von Ausflügen in die Wirklichkeit von Nonsens bis zu tiefem Ernst. Zusammengehalten durch ein Ensemble verschiedenster Künstler, frei assoziierend, ein dauerndes Anziehen und Abstoßen, ein Fliehen und Wiederkommen, zusammengehalten durch das Repertoire, zu dem auch 15 Jahre lang eine Performancegruppe wie Gob Squad gehörte. Es ist mir unverständlich, warum Performance und Schauspielertheater an einem Haus nicht friedlich koexistieren sollten. In der Volksbühne ging es doch auch. Es war nicht reibungslos, aber produktiv.

Die Volksbühnenbewegung gegründet zu haben, um den Proletariern ein Theater zu schaffen, war eine der größten kulturellen Taten der Sozialdemokratie. Seitdem tut sie sich mit der Hochkultur oft schwer. Im Nachhinein habe ich mich gefragt, was eigentlich gewesen wäre, wenn der Kulturstaatssekretär André Schmitz keine Steuern hinterzogen und deshalb auch nicht hätte zurücktreten müssen, um Tim Renner Platz zu machen. Es hätte sicher andere Übergänge gegeben, nicht diesen Scherbenhaufen. Aber hätten wir dann auch so ein großartiges, unvergessliches Endzeittheater erlebt, gewachsen aus dem Zorn über die Berliner Verhältnisse?

Es gibt ja eine Form des Ickedettekiekema-Berlin, Ost oder West ist egal, die piefig und provinziell ist. Man hält den Onkel aus Amerika für weltläufig, weil er so schöne seidene Hosen anhat, die Tante aus dem Scheunenviertel, die mit 40 noch Ausdruckstanz macht, aber für starrsinnig und verschroben. Dass sie Erfolge in aller Welt feiert und eine Internationale Schule gegründet hat, ist doch dem Ickedettekiekema-Berliner egal. Der Onkel mit den Seidenhosen riecht viel besser und er hat ein goldenes Adressbuch, aus dem er Namen haucht. Große Namen. Und der Ickedettekiekema-Berliner glaubt, dass ihm dann noch ein bisschen Glanz auf ihn herabfällt.

Castorf ist kein Punk

In dem vor zwei Tagen erschienen voluminösen Bildband über die Volksbühne 1992 - 2017 (Alexander Verlag) gibt es ein Foto von der Feier zum 100-jährigen Bestehen der Volksbühne, 2014 war das. Eine lange Tafel mit Geburtstagsgästen, im Fokus drei Männer, die sich zuprosten. Rechts Frank Castorf, links Tim Renner und ein weißhaariger Mann mit Fünftagebart, von dem wir heute wissen, dass es Chris Dercon ist. Castorf ist in diesem Moment noch ganz ahnungslos, währenddessen Dercon schon gewusst haben muss, dass er für die Nachfolge vorgesehen ist. Die Herausgeber haben neben dieses Bild ein Szenenbild aus Blutsbrüder gestellt. Ganoven, die wie Ganoven aussehen, sitzen um einen Tisch und verhandeln den nächsten Coup. Keine Absicht, sondern Zufall der zeitlichen Abfolge.

Am Schlimmsten empfand ich Tim Renners Ranwanzen an Castorf zu dessen 65. Geburtstag im Juli 2016. In der Berliner Morgenpost versuchte er ihn sich als Punk-Bruder im Geiste zuzurichten und gleichzeitig den Arschtritt, den er Castorf mit der Nichtverlängerung seines Vertrages gegeben hatte, zu einem Bruderkuss umzudeuten. Der Artikel endete mit dem Satz: "Sollte er mal im BE inszenieren, werden wir es vorher ausräuchern. Da wohnt Peymanns Geist." Damals dachte ich, was maßt sich dieser Mensch an, und wer ist "Wir"? Castorf ist kein Punk, er ist Anarchist, und das ist ein Unterschied. 

Wo geht Ihr denn jetzt hin?


Am 24. Juni während der letzten Vorstellung von "Die Brüder Karamasow" wurde der Schriftzug "OST" vom Dach der Volksbühne entfernt. © Jörg Carstensen/dpa

In den letzten beiden Jahren ist die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz von ihren Gegnern in den Medien gern als ostidentitärer, frauen- und ausländerfeindlicher stalinistischer Heimatschuppen koksender Pseudointellektueller denunziert worden. Stalin im Intendantenzimmer und "OST" auf dem Dach, das war ja ein Treppenwitz, der bis zuletzt funktionierte, um Leute zu empören, die glauben, in der besten aller Welten zu leben. Das "OST" auf dem Dach stand für einen Diskurs, der aus ostdeutschen Erfahrungen gespeist war, aber längst mehr Westsozialisierte oder Nachwendegeborene anzog. An der Volksbühne sammelten sich Leute, die das Individuelle im Kollektiv lebten. "OST" stand für eine ästhetische, politische und sprachliche Osterweiterung, die jetzt wieder zurückgenommen wird, was ja dem aktuellen Zeitgeist entspricht.

So viel junges Publikum, wie zuletzt in die Volksbühne kam, gibt es in Berlin nur im Gorki-Theater. Die Fortsetzung der Castorfschen Volksbühne werden junge Frauen wie Helene Hegemann und ihre Freundinnen sein, die sehr genau zugesehen haben und die die Perspektiven verändern werden, zu mehr Gender und Diversität. Am Ende gelang es nicht, eine wirkliche Widerstandsbewegung gegen die Abwicklung auf die Beine zu stellen, auch deshalb nicht, weil die Gewerke blieben, getrennt wurden vom künstlerischen Personal. Und ohne die Gewerke geht nichts am Theater, das werden auch die Nachfolger zu spüren bekommen.

Und dann kam das Ende. Es kam ein Faust, der mir im Gedächtnis bleiben wird, wie der Macbeth von Heiner Müller. Ein sechsstündiges Gesamtkunstwerk über Aufklärung und Kolonialismus, ein Parforceritt durch die Hölle, ein Stück, in das ich mich in der Nachtvorstellung in der Pause schlich, weil ich befürchtete, keine Karte mehr für eine ganze Vorstellung zu bekommen. Um dann gegen 6.30 Uhr auf die Torstraße zu torkeln und verwirrt zu bemerken, dass der Himmel im Westen rot war und nicht im Osten, wo eigentlich der Sonnenaufgang sein musste. Je öfter ich in den nächsten drei Monaten noch in die Volksbühne ging, je länger die Leute klatschten, weinten, nicht gehen wollten und die Schauspieler, Techniker und Souffleurinnen immer wieder auf die Bühne zurückbaten, in jenen Momenten, in denen sie alle an ihr Limit gerieten, ohne davon Notiz zu nehmen, in diesem Moment wurde der Verlust real und der Zorn über diejenigen, die das Haus in dieser Form für obsolet hielten, unermesslich.

In Dark Star, der letzten Inszenierung von René Pollesch am Haus, treibt Martin Wuttke, als einer der drei Amigos, eine Frage zur Weißglut: "Aber wo geht Ihr denn jetzt hin?" Die Antwort könnte lauten: Wir machen einen großen Bogen um das Haus. Denn mal ehrlich, was soll man als Berlinerin noch in der durchgentrifizierten Mitte, die ästhetisch von einer Schlossattrappe beherrscht wird, während die Bevölkerung wochenlang auf Geburtsurkunde und Personalausweis warten muss, weil die Verwaltung Züge eines failed state angenommen hat? Die Volksbühne, die einst buchstäblich in die ärmste Gegend der Stadt gerammt wurde, steht nun im Wohlstandsviertel, dem das Volk abhanden gekommen ist und wo selbst der gehobene Mittelstand um seine Wohnungen fürchten muss. Insofern ist die Berufung Dercons auch wieder konsequent.

Ein riesiges unterirdisches Pilzgeflecht

Mein Lieblingsstück blieb Kill your Darlings, der große Fabian-Hinrichs-Soloabend mit Artisten, in dem es um Schein und Sein geht. Dort heißt es: "Die besten Szenen werden wir heute Abend nicht zeigen, denn die könnten wir gar nicht ertragen. Ich auch nicht, ich könnte nie wieder ein Theaterstück spielen, und Sie könnten nie wieder in einen Theaterabend hineingehen, weil: Sie haben das Beste bereits gesehen, und Sie werden es nie wieder erleben, deswegen haben wir die Spitzen abgeschnitten, denn sie sind nicht zu leben." In den letzten zwei Monaten der Castorf-Intendanz hat niemand mehr die Spitzen abgeschnitten. An seinem letzten Abend trieb Fabian Hinrichs diesen Satz in die Konsequenz, als er den donnernden Beifall unterbrach und sagte, er wisse nicht, ob er noch jemals auf einer Bühne stehen wird. Auf einer Bühne stehen wolle.

Nicht alle Schauspieler werden je wieder so einen Beifall bekommen. Viele der Zuschauer werden nie wieder solche grandiosen Theaterabende erleben, so ein Einverständnis der Schauspieler mit ihrem Publikum, das sie durch die Abende trug. Aber wer weiß. "Vorbei. Welch dummes Wort", heißt es im Faust. Die Volksbühne hat im Laufe ihrer Geschichte schon viele Durststrecken durchlebt, mehr als Sternstunden. Die waren unter Erwin Piscator, bis er 1927 wegen Parteilichkeit entlassen wurde, unter Benno Besson in den Siebzigern, bis er nach der Biermann-Ausbürgerung für sich keine Chance mehr in der DDR sah, wie viele Volksbühnenschauspieler auch. Die Jahre mit Castorf, aber auch nicht alle. Dazwischen immer wieder Langeweile, Wüste, Zerstörung, Wiederaufbau.

Letztlich muss man sich die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz wie ein riesiges unterirdisches Pilzgeflecht vorstellen, das unter der Erde miteinander verbunden ist und sich um die ganze Welt spannt. Egal, wo ich in den letzten Jahren gewesen bin, ob in Finnland, Weißrussland oder den USA, ob Frankreich, Magdeburg oder Freiburg, immer war da jemand, der entweder an der Volksbühne gearbeitet oder anderweitig mit ihr verbunden war. Für den die Volksbühne das Berlin verkörperte, in dem er selbst gerne gelebt hätte oder hatte.

Am Ende, als alle Räuberfahnen eingeholt und das Transparent der letzten Vorstellung abgebaut war, erschien plötzlich ein anderes an der Stirnseite des Hauses: "WIR WERDEN EWIG LEBEN". Nina Hagen schreit diesen Satz in der Hymne des 1. FC Union Berlin, der anderen Berliner Institution, auf der "OST" steht.

Heute, zwei Tage nach dem verregneten Abschiedsfest vor der verschlossenen Volksbühne, ist da nur eins: Nadryw. Verschärfte Form. Eigentlich wollte man nur einen Pickel im Gesicht ausdrücken, aber jetzt ist der ganze Kopf weg. Und der Satz von Bert Neumann überflüssig: Don’t look back.

In meiner Fronzeit als Ankleiderin in der Provinz habe ich mir oft gewünscht, dass ich morgens ins Theater komme und es steht in Flammen. Zehn Jahre nachdem ich die Stadt und Theater verlassen hatte, kam ich zu Besuch und sah aus einer der oberen Etagen eines Hochhauses aufs Theater. In diesem Moment tat sich das Dach auf und Feuer und Rauch quollen heraus. Das Theater brannte bis auf die Grundmauern nieder. Mein Wunsch war in Erfüllung gegangen, aber ich konnte damit nichts mehr anfangen, die Zeit war über meine Wut hinweggegangen.

Jetzt, bei der Volksbühne hatte ich die Vorstellung, dass das Haus lautlos im Bühnenboden verschwände und ein leerer Platz zurückbliebe, besenrein.

Annett Gröschner lebt als Schriftstellerin und Publizistin in Berlin. Sie schreibt Romane, Erzählungen, Essays, Theaterstücke, Radiofeatures und Reportagen. Sie ist Mitglied der Redaktion von "10 nach 8".

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Wir denken, dass diese Stimmen divers sein sollten. Wir vertreten keine Ideologie und sind nicht einer Meinung. Aber wir halten Feminismus für wichtig, weil Gerechtigkeit in der Gesellschaft uns alle angeht. Wir möchten uns mit unseren LeserInnen austauschen. Und mit unseren Gastautorinnen. Auf dieser Seite sammeln wir alle Texte, die 10 nach 8 erscheinen.