Im Grunde ist es ein ganz normaler Vorgang: Eine
Landtagsabgeordnete möchte zur Wahl im nächsten Jahr wieder nominiert werden. Die Parteimitglieder lehnen das ab. Daraufhin entschließt sie sich, ihre Partei und Fraktion zu verlassen und ihr politisches Glück bei einer anderen Partei zu suchen. So weit nicht dramatisch.
Ziemlich dramatisch wurde
dieses Szenario in Niedersachsen am vergangenen Freitag erst dadurch, dass die Grünen zusammen mit der SPD im Landtag nur über eine Ein-Stimmen-Mehrheit verfügten. Die ist mit dem Wechsel der grünen Abgeordneten Elke Twesten zur CDU futsch. Ergebnis: Die rot-grüne Koalition ist am Ende,
Ministerpräsident Stefan Weil (SPD) strebt eine vorzeitige
Neuwahl an. Die wird wie schon beim letzten Mal die CDU gewinnen, jetzt erst recht. Statt Rot-Grün wird es dann wahrscheinlich Schwarz-Gelb geben.
Selbst schuld, könnte man jetzt sagen. Warum hat die Parteispitze der Grünen in Niedersachsen nicht verhindert, dass die Mitglieder die Abgeordnete nicht wieder aufstellten? Nun, die Grünen sind bis heute eine sehr basisbewegte Partei. Das ist ja auch gut. Aber kann eben, wie in diesem Fall, in die Hose gehen.
Natürlich ist es das gute demokratische Recht von Delegierten und Mitgliedern, Parlamentarier nicht wieder zu nominieren. Ein Mandat wird nur auf Zeit verliehen – allerdings von den Wählern. Weshalb es auch ziemlich
aberwitzig und undemokratisch ist, die Abgeordnete jetzt zu drängen, ihr Mandat "zurückzugeben". An wen? An die Partei?
Der gehört es nicht, egal ob die Abgeordnete das Mandat direkt oder über die Parteiliste errungen hat. Es gehört dem Souverän, dem Wahlvolk.
Wichtiger als die Unverfrorenheit, mit der hier Grüne ein Abgeordnetenmandat als ihre Beute betrachten, ist mir die Frage, die sich mir nicht zum ersten Mal in jüngerer Zeit stellt: Wollen die Grünen, nicht nur in Niedersachsen, nicht mehr regieren? Legen sie es geradezu darauf an, am 24. September aus dem Bundestag zu fliegen?
Wenn dem nicht so wäre, dann hätte es doch irgendjemand geben
müssen, der in Hannover oder in Berlin das drohende politische Unheil hätte kommen sehen müssen: wenn eine Abgeordnete schon länger mit einer Oppositionspartei sympathisiert und gleichzeitig die Regierungsmehrheit nur an einer einzigen Stimme hängt. Oder zumindest können, mit ein bisschen Weitblick.
Politik- und Regierungsfähigkeit sind wichtige Kriterien, von denen Wähler (hoffentlich) ihre Wahlentscheidung abhängig machen. Ich tue es. Wer sein Mitregieren in einem großen, wichtigen Bundesland so leichtfertig aufs Spiel setzt oder zulässt, dass es passiert, gehört abgestraft. Erst recht in einem Moment, wo die Grünen auf Bundesebene um ihr parlamentarisches Überleben kämpfen.
Denn sie sind in den Umfragen nicht sehr weit vom Abgrund entfernt, mit 7 bis 8 Prozent (und die letzten Umfragen lagen vor dem selbst verschuldeten Desaster in Niedersachsen). Die FDP lag wenige Wochen vor der Bundestagswahl 2013 auch noch in einem für sie scheinbar beruhigenden Bereich. Dann aber ging es steil bergab, und am Ende entschieden sich viele schwarz-gelbe Wechselwähler offensichtlich lieber CDU zu wählen, um ihre Stimme nicht an eine Verliererpartei zu vergeuden.
Knick nach unten Genau so kann es den Grünen diesmal gehen, wenn sie nicht endlich aufwachen. Denn mit der Schulz-SPD gibt es für Rot-Grün- oder Rot-Rot-Grün-Anhänger eine echte Alternative, wenn auch ohne wirkliche Regierungsperspektive. Schwarz-Grün-Anhänger jedoch, wie die niedersächsische Abgeordnete, stehen nun vor einem Dilemma: Wählen sie am 24. September grün, könnte Schwarz-Gelb erst recht eine Mehrheit bekommen, wenn ihre Wunschpartei an der Fünfprozenthürde scheitert wie zuletzt 1990.
Haben führende Grüne wie die ostdeutsche Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt und ihr schwäbischer Pendant und Partei-Co-Chef Cem Özdemir daraus nichts gelernt? Wollen sie nicht oder können sie nicht? Diese Frage stellt sich mir nach diesem für die Grünen schwarzen Freitag. Schließlich bin ich ja auch ein Wähler und schaue nicht nur als politischer Beobachter darauf, ob eine Partei strategisch klug und geschickt handelt.
Wer also in einem Land weiter mitregieren will und im Bund nach zwölf Jahren Opposition endlich wieder an die Macht kommen möchte, müsste aus meiner Sicht darauf achten, dass so etwas kurz vor der Bundestagswahl nicht passiert. Das müssen Parteivorsitzende und Spitzenkandidaten ja nicht selbst tun. Dafür gibt es politische Geschäftsführer und Parteimitarbeiter. Die müssten, wenn sie ihre Aufgabe ernst nehmen, die Warnzeichen – und davon gab es in diesem Fall offenbar genug – rechtzeitig erkennen und die Parteiführung zum Handeln drängen.
Politischer Todestrieb? Zum Beispiel indem diese den Delegierten klar gemacht hätten, was von ihrer Entscheidung noch alles abhing. Dann hätten die sich womöglich anders entschieden und die Abgeordnete, die ja immerhin auch frauenpolitische Sprecherin der Partei war, also nicht irgendjemand, wieder aufgestellt. Auch wenn ihnen deren unbedingter Wille, künftig mit der CDU statt mit der SPD zu regieren, zu weit ging. Den Grünen wäre damit eine Menge erspart geblieben.
Als ich vor einiger Zeit
hier auf ZEIT ONLINE schon einmal schrieb, dass ich den Eindruck hätte, die Grünen habe eine Art politischer Todestrieb erfasst, weil sie eine Koalition im Bund
von der Öffnung der Ehe für Homosexuelle abhängig machten, wurde ich von Lesern und Social-Media-Usern heftig kritisiert und für verrückt erklärt. Die Öffnung wurde kurz darauf vom Bundestag beschlossen. Angela Merkel, die dagegen war, hat ein weiteres störendes Thema rechtzeitig vor der Wahl abgeräumt. Den Grünen aber hat es, wie von mir prophezeit, nicht geholfen: Die Partei steht bundesweit in den Umfragen keinen Deut besser da. Und wenn sie sich wie in Niedersachsen politisch so ungeschickt verhält, frage ich mich erneut: Hat die Grünen die Todessehnsucht gepackt?
Vielleicht wird man nach der Bundestagswahl sagen, dass der schwarz-grüne Freitag von Niedersachsen der Tag war, an dem der Knick für die Grünen endgültig nach unten ging und die Schwarz-Grün-Hoffnungen von Göring-Eckardt und Özdemir und anderer in der Partei endgültig zerstoben. Aber sage keiner, sie oder er hätten es nicht voraussehen können.