10 nach 8: Verena Weidenbach über Behinderung

 
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21.08.2017
 
 
 
 
10 nach 8


Geliebtes Angstmachkind
 
Was macht es mit einer Mutter, wenn ihr Kind behindert zur Welt kommt? Unsere Autorin erlebte einen Albtraum aus Angst und Schuldgefühlen.
VON VERENA WEIDENBACH

© Jenna Norman/unsplash.com
 
© Jenna Norman/unsplash.com
 
 

Ich fühlte es sofort. Im ersten Moment, als ich nach drei missglückten Geburtseinleitungen, mehreren auffälligen CTGs und einem hastigen Kaiserschnitt meine reif geborene und doch nur 2.400 Gramm leichte Tochter im Arm hielt. Ich blickte in ihr wunderschönes, winziges Elfengesicht und nahm eine Aura wahr. Etwas Flirrendes, kaum zu Fassendes. Dass die wortkargen Kinderärzte meine Tochter gleich nach der Geburt auf Infektionen im Mutterleib testeten, verstärkte die Irritation. Doch ich verdrängte es, erschöpft von der Gewaltgeburt, und ließ mich schließlich ohne Befund nach Hause schicken: "Ihr Kind ist zart, aber gesund. Genießen Sie die Flitterwochen mit Ihrer Kleinen."

Das Wochenbett als Honeymoon zu sehen – eine klebrige Idee, so wie die rosaroten Mami-Bücher, die Schwangeren wellnessverkitschte Befindlichkeitsnormen diktieren – gelang mir nicht, so sehr ich es mir auch wünschte. Stattdessen landete ich in einem David-Lynch-artigen mindfuck movie, der mich an meiner Wahrnehmung zweifeln ließ und mich in eine unheimliche Parallelwelt sog.

Ich sah Dinge. Symmetrische Augenbewegungen, wie ferngesteuert, die mich zu Tode erschreckten, so dass ich meine Mutter, meine Schwester und meine Schwägerin mit Anrufen bombardierte: Ist das normal? (Bitte sag, dass du das auch kennst.) Ich recherchierte in Internetforen. Ich terrorisierte meinen Mann und zwang ihn, meinen pathologischen Sezierblick zu teilen. Ich zerrte Elise* von Arzt zu Arzt, bettelte um EEGs, erzwang Hirn-Ultraschalle und Augenuntersuchungen – bis ich nach der dritten Entwarnung endlich glaubte, was die Hebamme, mein Mann und alle um mich herum längst für eine Tatsache hielten: Ich litt an postnataler Depression und sah Gespenster. Spiegelbilder meiner Bindungsangst. Es war alles nur in meinem Kopf und es konnte vorbeigehen, wenn ich Hilfe suchte. 

Die Erkenntnis hatte etwas Befreiendes, und für einen Tag ergab ich mich der empirisch abgesicherten "Realität". Wir genossen einen wunderschönen Spätsommertag, mit dem Kinderwagen draußen, in diesem tiefstehenden Septembersonnenlicht, das so typisch ist für die Münchner Wiesn-Zeit. Doch dann kam der nächste Tag, den ich in all seinen Sinnesbanalitäten noch immer riechen, hören und fühlen kann: Ich weiß, welche Playlist lief, als wir die Wohnung für den Besuch am Nachmittag putzten. Ich erinnere mich an die Ankunft meiner Freundin und daran, wie sehr ich mich über ihr Geschenk freute: einen dänischen Schutztroll aus Papier, zum Aufhängen in Elises Wiege. Ich weiß, welchen Kuchen ich aß und welchen Strampelanzug meine Tochter trug, als sie beim Trinken an meiner Brust plötzlich rhythmisch zuckte und sich der Raum drehte und der Abgrund heranrauschte, mitten im Gespräch, und ich meinen Mann ansah und er mich, und alle Trennung mit einem Mal aufgehoben war.

Wir wussten es – und drei zermürbende Krankenhauswochen später, nachdem sich die Krämpfe meiner Tochter verschlimmert hatten und eine diagnostische Odyssee zwischen Hoffen und Bangen in Gang gesetzt worden war, wussten wir es auch im medizinischen Sinne: Unsere Kleine hat eine seltene Gehirnfehlbildung, womöglich bedingt durch eine Stoffwechselkrankheit (schlimm), vielleicht aber auch genetisch (nicht ganz so schlimm). Sie würde lebenslang anfallsgefährdet sein, und es drohten massive geistige und motorische Entwicklungsverzögerungen.

Eine Phase hochfunktionierender Taubheit

Dass ich in den darauffolgenden Wochen nicht durchdrehte, lag daran, dass der existenzielle Adrenalinpunkt des Schocks in eine Phase hochfunktionierender Taubheit überging. Es lag aber auch und paradoxerweise daran, dass unsere Tochter die nächsten beiden Monate wegen sedierungsbedingten Atemproblemen auf der Intensivstation verbrachte. Dort herrschte eine ebenso strenge wie tröstende Routine des Kommens und Gehens, dort waren wir permanent von einem liebevollen Kokon aus Ärzten und Krankenschwestern umgeben, und dort war Elise das fitteste Kind, das auf der Station zum ersten Mal lächelte und zu lautieren begann.

Der Horror begann erst, als sie mit unklarer Prognose heimkam und sich das Leben endlos und unerbittlich vor uns ausbreitete. Als ich morgens nicht mehr aufstehen wollte aus Angst vor dem Alleinsein mit meiner geliebten, gefürchteten Tochter und meiner Wahrnehmung, der ich nicht mehr traute, und allem, was ich an Elise sehen mochte, im Laufe des Tages, und der Wohnung und dem Stadtviertel, das mir unheimlich war, wie eine Attrappe voller Falltüren, und den Flashbacks, sobald die Kleine eine ruckartige Bewegung machte.

Irgendwann stand ich, erschöpft vom Dauerterror des Adrenalins, weinend in der Wochenendambulanz der Nervenklinik, wo mir elektrikblaue Minipillen in die Hand gedrückt wurden: mother's little helpers, die mich wunderbar einwatteten. Doch weil mein Nervensystem schon bald nach mehr schrie, zog ich frühzeitig die Reißleine.

Wird sich alles wiederholen?

Ich versuchte es mit verhaltenspsychologischer Angsttherapie, aber sie berührte nicht den Kern meiner Furcht, die bei allem irrationalen Überschuss doch auch berechtigt war – und wegen der ich schon einmal richtiger gelegen hatte als sämtliche Ärzte. Ich begann eine Traumatherapie, da einige meiner Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung ähnelten. Doch als mich mein Therapeut darüber aufklärte, dass mein Trauma kein echtes Trauma sei, weil ihm die lebensbedrohliche Komponente fehle (und gleich darauf nach früheren, tatsächlichen Traumata fragte), ahnte ich: Hier bin ich falsch. (Noch dazu schämte ich mich, mit meinen Psychopetitessen in einem Institut vorstellig geworden zu sein, das Gewaltopfern aus dem Balkankrieg und anderen Krisengebieten Hilfe bot.)

Am Ende setzte ich auf Antidepressiva und die Zeit, die uns völlig unverhofft entgegenkam und uns einen Sommer lang die Möglichkeit einer normalen Entwicklung vorgaukelte: Elise begann, sich zu drehen, sie fing an, zu robben und Silbenketten zu bilden, sie stürzte sich mit hinreißender Neugier auf die Welt – und sie blieb trotz abgesetzter Medikamente anfallsfrei. Irgendwann in diesem Sommer hörte ich auf, in jeder Sekunde damit zu rechnen, dass mir der Dämon Epilepsie von neuem mein Kind raubte. Stattdessen genossen wir den Urlaub bei unseren Familien im Rheinland, wo wir uns in eine tröstliche Terrassen-Sattheit fallen ließen. Grillabende, Planschbecken, Gartentrampolinhüpfen, Liebesfluchten. Und Elise, umgeben von Tanten, Omas und Opas, Cousins, Cousinen, als selbstverständlicher Teil eines unbedingten Ganzen, das mich in dem Glauben bestärkte: Sie holt auf. Es wird gut. Hatte die Neurologin nicht gesagt, dass einige Kinder mit Elises Hirnfehlbildung keinerlei Symptome entwickeln?

Sag, dass es nicht so schlimm ist, verdammt nochmal

Wie falsch wir damit lagen, zeigte sich spätestens, als unsere Tochter im darauf folgenden Frühjahr in die Krippe kam. Elise zählte dort als Inklusionskind, was ich mir schönredete, denn entwicklungsverzögert hieß ja noch lange nicht behindert. Doch die Wahrheit starrte mir herzzerreißend ins Gesicht, jedes Mal, wenn ich die Kleine abholte, inmitten der sogenannten Regelkinder, oder besser: daneben. Denn weil sie nicht lief, nicht sprach und nicht mit den anderen interagierte, blieb sie irgendwann für sich. Ich versuchte es zu verdrängen, und wenn eine Entwicklungsuntersuchung anstand, schickte ich meinen Mann, den ich in die undankbare Rolle des Optimismus-Lieferanten drängte. Sag, dass es nicht so schlimm ist, verdammt nochmal. Ich selbst betäubte mich mit Arbeit, vor allem aber mit Weißwein, den ich auch schon mal vor Feierabend öffnete. Mein Trosttrinken eskalierte, daheim und auswärts, während ich mein wiedergewonnenes Eigen-Leben in Clubs und auf Konzerten feierte. Ich wollte mich entgrenzen und gleichzeitig wollte ich mich runterrocken, auf einem sehr harten Boden landen. Denn ich fühlte mich schuldig. An allem, was war.

Dann kam völlig ungeplant meine zweite Schwangerschaft. Sie bereitete mir eine Heidenangst und riss mich in einen Strudel aus vorgeburtlichen Untersuchungen und quälendem Warten. Doch nach dem erlösenden Befund trug mich mein Östrogenspiegel überraschend geschmeidig bis zur Geburt. Diesmal war alles anders. Ein anderes Krankenhaus. Ärzte, die aufgrund meiner Vorgeschichte besonders einfühlsam waren – und schließlich Emilie*, die kräftig und munter auf die Welt kam. Eine Nacht und einen Morgen war ich glücksberauscht – bis die Kleine beim Trinken an meiner Brust zusammenzuckte und die Wahnwelt des ersten Wochenbetts mit aller Gewalt zurückkehrte. Ab dem Moment war ich mir sicher: Es wird sich alles wiederholen.

Schockstarrend beobachtete ich mein Baby

Ich wollte Emilie stillen und ihr nahe sein und doch ertrug ich sie kaum an meiner Brust, weil sich die Zerrbilder von Elises Krämpfen über meine Wahrnehmung stülpten, so dass ich schockstarrend mein Baby beobachtete, in ständiger Erwartung der Katastrophe, die uns endgültig vernichten würde. Ich wollte flüchten und hasste mich für mein Mutterkaputtsein, für den pathologischen Blick, den ich durch die Erfahrung und das ständige Entwicklungsmonitoring von Elise verinnerlicht hatte, dieses Zuviel an Medizin in einer Zeit, in der tatsächlich etwas profundes Emotionales hätte stattfinden müssen: Mutter-Kind-Bindung, erste Liebe.

Es hätte schlimm ausgehen können mit uns allen, wir standen kurz davor, doch dann fand ich nach einer langen Beratungsstellen-Odyssee Monika: gelernte Krankenschwester und Masseurin und ausgebildet in "Emotioneller Erster Hilfe" – einem körperorientierten, aber auch gesprächsbasierten Konzept, das seelisch instabilen Frauen hilft, Selbstvertrauen zu fassen und eine liebevolle Beziehung zu ihrem Kind aufzubauen. Ursprünglich für Schreibaby-Mütter entwickelt, richtet sich die Therapie zugleich an Frauen, die überwältigende Geburts- und Wochenbett-Erfahrungen verarbeiten müssen. Sie wird deutschlandweit von rund 140 Berater*innen praktiziert – und sie fing mich auf, als nichts mehr ging.

Ich hätte Monika schon nach der ersten Geburt gebraucht. Monika, die stundenlang mit mir und Emilie durchs Zimmer ging, die Hand auf meinem Rücken. Die mich aus meinen Angstwelten zurückholte und es immer wieder schaffte, mich mit Atem- und Wahrnehmungsübungen im Moment zu halten. Die mich massierte, wenn ich mich nicht mehr spürte. Die meinen Mann und Elise mit in den Prozess holte und uns alle auf intensive Weise neu miteinander sein ließ, bis ich mich selbst wieder zu fassen bekam.  
Kurz nach dem Ende der Therapie wurde Elise als geistig behindert diagnostiziert – mit über zwei Jahren, wie so viele Kinder mit kognitiven Beeinträchtigungen, deren Mütter und Väter bis dahin nicht selten die Hölle durchlebt haben: gefangen in einer Schwellenphase, in der sie weder hier noch da sind und doch immer klarer sehen, wohin die Reise geht. Als es soweit war, trauerte ich zwei Wochen lang. Ich weinte um mein bezauberndes, punkiges kleines Mädchen und alles, was ihr im Leben verwehrt sein würde. Ich trauerte in der Gewissheit, dass nun neue Herausforderungen anstanden, Krisen, Belastungen. Doch etwas hatte sich gelöst. Ich war bereit für Klarheit, für Liebe – und dafür, die Unwucht des Ungewissen auszuhalten. 

* Die Namen der Kinder im Text sind geändert worden.

Verena Weidenbach lebt mit ihrer Familie in München. Sie ist freiberufliche TV-Autorin und -Übersetzerin und schreibt politische Texte für den Blog "Starke Meinungen".


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