Fünf vor 8:00: Kommunistische Überzeugung, pragmatische Praxis - Die Morgenkolumne heute von Gero von Randow

 
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FÜNF VOR 8:00
16.08.2017
 
 
 
   
 
Kommunistische Überzeugung, pragmatische Praxis
 
Chinas Regierung behauptet ihre Macht durch Repression. Der Westen muss das kritisieren – und zugleich die Zusammenarbeit suchen. So ergeben sich Chancen für den Wandel.
VON GERO VON RANDOW
 
   
 
 
   
 
   
China bewegt sich auf ein Ereignis zu: den 19. Parteitag der Kommunistischen Partei (KPCh) im Oktober. Aus der internationalen Presse erfahren wir, dass der Partei- und Staatschef Xi Jinping die Macht zentralisiere, auch seine persönliche, und das in einem Maße, wie man es seit Mao Zedong nicht gesehen habe. Kann, soll man das glauben? Und ist das wirklich alles, was es zu berichten gibt? Nun, es existieren Originalquellen, Schriften Xi Jinpings sowie Parteiveröffentlichungen, die immerhin ein paar Schlussfolgerungen erlauben.
 
Seit einiger Zeit verbreiten Parteimedien die Lehre, Xi Jinping habe die Menschheit um ein ganzes System neuartiger Gedanken bereichert. So etwas wurde bisher nur von Mao behauptet; selbst einem historischen Parteiführer wie Deng Xiaoping billigten die Ideologiechefs lediglich zu, eine auf China bezogene "Theorie" hinzugefügt zu haben. Dessen Nachfolger Jiang Zemin und Hu Jintao wiederum hätten diese ihrerseits zwar mit "Ideen" ergänzt, aber mehr auch nicht. 
 
Der 2014 erschienene Sammelband China regieren, als dessen Autor Xi firmiert, stellt dieses fabelhafte Gedankengut vor. Wir lesen etwa eine Referenz an Deng, die so geht: "Das Festhalten an (der dengschen Maxime; GvR) die 'Wahrheit in den Tatsachen suchen' erfordert ein gründliches und tatsächliches Verständnis des eigentlichen Wesens der Dinge. Man muss durch die Erscheinung hindurch das Wesen sehen und aus verstreuten Erscheinungen erkennen, wie die Dinge im Innern auf natürliche Weise miteinander verbunden sind. Es gilt, sowohl von den Gesetzmäßigkeiten des Seins als auch von denen der Entwicklung auszugehen und in der Praxis alle Angelegenheiten den objektiven Gesetzmäßigkeiten entsprechend zu erledigen." – Sind Sie noch da? 
 
Wer das ohne den historischen und kulturellen Kontext liest, muss es für ausgemachten Quatsch halten. Doch die ans 19. Jahrhundert erinnernden Formulierungen wie "eigentliches Wesen der Dinge", "durch die Erscheinung hindurch das Wesen sehen" oder "in der Praxis alle Angelegenheiten den objektiven Gesetzmäßigkeiten entsprechend (...) erledigen" sind als Zeichen zu verstehen, die nicht etwa auf eine besondere Erkenntnistheorie deuten, sondern auf etwas anderes: die angestrebte Harmonie von Ideologie und Pragmatismus. 
 
Am kommunistischen Überzeugungssystem festhalten, sich in der Praxis aber nichts vormachen, das ist der Spagat, der durchgehalten werden soll, um die Macht der Partei trotz allen Veränderungsdrucks nicht ins Wanken geraten zu lassen. 
 
Die KPCh bleibt der "Führungskern", wie es in ihrem 2012 erneuerten Statut heißt. Ihre Ideologie ist aufgebaut nach dem Prinzip der Puppe in der Puppe. Ganz innen hockt der Marxismus-Leninismus, der "die Gesetze der historischen Entwicklung der menschlichen Gesellschaft aufdeckt". Die nächste Puppenform umfasst die "Mao-Zedong-Gedanken", den auf China angewandten Marxismus, umgeben von der "Deng-Xiaoping-Theorie", des "Marxismus des heutigen Chinas" – wiederum ergänzt durch ziemlich formelhafte Ideen seiner Nachfolger. Eine als kohärent vorgestellte Architektur ohne Widersprüche. Ein Gedankengebäude, dessen Aufbau so gar nicht ins heutige Wissenschaftsverständnis passt, obwohl im Bauplan allenthalben "Wissenschaft" notiert ist. Wie kommt das?
 
"Die Verwirklichung des Kommunismus ist das höchste Ideal und Endziel der Partei", heißt es im Statut. Am Ende also lockt die klassenlose Gesellschaft. Daran lässt sich aber angesichts der höchst ungerechten Wirklichkeit nur festhalten, wenn ergänzt wird, dass sich das Land derzeit nur im ersten Stadium einer Vorform dieser Idealgesellschaft befinde, welches gar noch "mehr als 100 Jahre andauern" werde, denn China sei noch immer "ökonomisch und kulturell rückständig". 
 
Wie soll man mit China umgehen?
 
Um die Gesellschaft in die modernen Zeiten zu führen, hat die KPCh sich für eine Form des Staatskapitalismus entschieden, in dem die Parteikader die Wirtschaft dirigieren. Allerdings in einer Weise, dass sie eine Millionärs- und Milliardärsklasse züchten, die eigenes Interesse am Wirtschaftswachstum hat. Diesen Widerspruch zwischen Kommunismus und Kapitalismus soll die ideologische Konstruktion wie ein Stahlband umschlingen, damit er nicht alles auseinanderreißt.
 
Chinas Kapitalisten leben gut unter der Diktatur, solange sie diese nicht in Frage stellen. In etlichen Städten ist auch eine aufstrebende Mittelschicht entstanden, die sich wenig um Ideale schert und sich vielmehr über steigenden Wohlstand freut. Weniger gut leben jene Aberhunderte Millionen Chinesen, namentlich auf dem Land, die bis heute vergeblich auf den sino-marxistischen Trickle-down-Effekt warten und die grassierende Korruption mitansehen müssen.
 
Furcht vor ideologischer Nachgiebigkeit
 
Dann gibt es noch jene, deren Kritik am Regime sie in die Kerker geführt hat. Die Repression in China erklärt sich nicht nur aus dem Machtwillen der herrschenden Klasse, sondern auch daraus, dass diese den Untergang der Sowjetunion als Resultat ideologischer Nachgiebigkeit versteht. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts schlagen sich in Chinas Zeitschriften und Universitäten Kampagnen gegen "westliche Ideen" nieder, namentlich gegen den "demokratischen Sozialismus". Dass dazu Werke von Karl Marx herangezogen werden, ist nur eine scheinbare Komplikation, denn dessen Aufsätze werden strikt im Kontext parteichinesischer Dokumente gelesen. Xi Jinping machte es schon mehrmals vor, indem er mit Parteiführern in diesem Sinne "theoretische Seminare" abhielt.
 
Die Verhärtung des Systems verdient Kritik. Doch keine Kritik ohne Selbstreflexion. Denn wir sind Nachfahren: Westliche Nationen, nicht zuletzt das kaiserliche Imperialisten-Deutschland, haben China jahrhundertelang ausgeraubt und jeden Widerstand niedergeschlagen. Es musste erst ein Schlächter wie Josef Stalin kommen, der dem Steinzeitkommunisten Mao die Hand reichte, bevor China dauerhafte Unabhängigkeit erringen konnte. Es folgten wissentlich herbeigeführte Hungersnöte, der Massenterror der sogenannten Kulturrevolution und bis heute Diktatur – aber vergessen wir nicht den Satz des Schriftstellers Jean-François de La Harpe (1739 bis 1803), Freund Voltaires und der Französischen Revolution, bis sie auch ihn in den Kerker warf: "Je niederträchtiger der Unterdrücker, desto ruchloser der Sklave."
 
Demütigungen früherer Zeiten
 
Der Gedanke sozialer Revanche ist in Chinas Weltbild lebendig geblieben. Auch die besondere Ehrpusseligkeit sowie das Auftrumpfen chinesischer Offizieller hat mit den Demütigungen früherer Zeiten zu tun.
 
Westliche Chinapolitik sollte in Rechnung stellen, dass sie es mit jemandem zu tun hat, der sich mit vollem Recht nicht als Subalterner behandeln lässt. Wie aber soll man mit China umgehen? Wenn Xi Jinping bis zum kommenden Parteitag Rivalen unter Korruptionsvorwürfen beseitigen und Andersdenkende verfolgen wird, dann ist Kritik fällig. Wer sie nicht oder nur durch die Blume äußert, desavouiert sich. Zugleich aber sollte Chinas Anspruch, international mitzuspielen, beim Wort genommen werden. Gemeinsame Interessen gibt es ja: Sicherheit in Asien (Nordkorea!), Klimaschutz, Handel und Investitionen. Alles potenzielle Felder der Zusammenarbeit, alles auch Chancen für einen Wandel.
 
Wandel? Aber ja. Er ist letzten Endes unausweichlich. Mit dem Internet ist die Globalisierung der Ideen in eine neue Phase getreten – das ist ja gerade der Grund dafür, dass Autokraten in aller Welt versuchen, den Zugang zu beschränken. Sie, und auch die chinesische Führung, werden damit auf Dauer scheitern. Sie pflügen das Wasser.
 
   
 
   
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Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.