10 nach 8: Cécile Calla über weibliche Helden

 
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23.08.2017
 
 
 
 
10 nach 8


Meine persönliche Jeanne d'Arc
 
Helden geben Orientierung, Ermutigung und Kraft. Aber wo finde ich eine moderne Heldin, mit der ich mich identifizieren kann? Gibt es sie überhaupt?
VON CÉCILE CALLA

Moderne Heldin? Johanna Wokalek als Jeanne d’Arc in Arthur Honeggers Oratorium "Jeanne d’Arc au bûcher" © Barbara Aumüller/Oper Frankfurt
 
Moderne Heldin? Johanna Wokalek als Jeanne d’Arc in Arthur Honeggers Oratorium "Jeanne d’Arc au bûcher" © Barbara Aumüller/Oper Frankfurt
 
 

Ich bin auf der Suche nach Heldinnen. Nach vielfältigen weiblichen Vorbildern. Ich tappte und tappe immer wieder im Dunkeln, weil das Angebot mir zu klein und zu uniform erscheint. Ich hatte bisher die Wahl zwischen der Heiligen Jungfrau Maria, Jeanne d'Arc und der ohnmächtigen Prinzessin mit rosa Schleife.

Weil mich keines dieser Modelle zufriedenstellte, waren meine Stunden immer dann einsam und voller Zweifel, wenn ich vor Herausforderungen stand. Früher dachte ich, dass das Geschlecht bei Helden irrelevant sei. Schließlich faszinierten mich als Kind die Geschichten von Tom Sawyer und Oliver Twist, obwohl die Helden Jungen waren. Was ich damals übersah, verstand ich später als erwachsene Frau. Als ich kurz vor meinem 30. Geburtstag mit existenziellen Fragen konfrontiert wurde wie: "Kann ich ohne Kinder leben? Wie vereinbare ich einen anspruchsvollen Job mit privatem Glück? Brauche ich einen Mann an meiner Seite, um glücklich zu sein? Wie möchte ich leben?", fühlte ich mich sehr alleingelassen. Helden sind wichtig in Zeiten der Krise, wenn man nicht weiterweiß, wenn der Horizont verstopft ist. Man braucht Orientierung, Ermutigung und Kraft. Also blieb mir nichts anderes übrig, als mich selbst auf die Suche zu machen.

Heldentum gehört zum gesellschaftlichen Diskurs, es spiegelt die Werte einer Gesellschaft. Daher können sich seine Merkmale je nach Epoche und Ort sehr unterscheiden. Trotzdem finden sich quer durch die Zeiten einige Gemeinsamkeiten: Der Held erhebt sich über die Niederungen seiner menschlichen Existenz, er besitzt Charisma, hat oft einen magischen oder göttlichen Ursprung, sprengt Normen, oft mit Hilfe von Gewalt. Meist befindet er sich weit weg von zu Hause. Alles Qualifizierungen, die sich bis ins 20. Jahrhundert nur schwer mit den Lebensbedingungen von Frauen vereinbaren ließen. Und die Frauen, die in der Vergangenheit außerordentlich gelebt und gehandelt haben, sind heute meist in Vergessenheit geraten. Das beweist etwa der amerikanische Film Hidden Figures, der die Geschichte von drei Nasa-Mathematikerinnen erzählt.

Seit einiger Zeit werden uns in Filmen, Büchern und in der durch die sozialen Medien vermittelten Realität durchaus aufregende weibliche Vorbilder vorgestellt. Sehr inspirierend finde ich zum Beispiel das Leben der vor Kurzem verstorbenen iranischen Mathematikerin Maryam Mirzakhani. Die gebürtige Teheranerin entdeckte früh ihre Leidenschaft für Mathematik und setzte sich durch, obwohl sie in einem Land aufwuchs, das Frauen wenige Rechte zugesteht. Sie promovierte in Harvard und gewann als erste Frau die berühmte Fields-Medaille für herausragende Entdeckungen in der Mathematik. Mit nur vierzig Jahren starb sie viel zu früh.

Unter dem französischen Suchwort héroines werde ich an eine 2005 entstandene Fotoserie von Bettina Rheims erinnert, die fünfzig Frauen in den neuen Kreationen der Pariser Haute Couture ablichtete und als Heldinnen feierte, weil ihre Haut ohne Schminke und Nachbearbeitung zu sehen ist, mit kleinen Flecken, Pickeln, Behaarung. Dass Frauen den Alterungsprozess an ihrem Körper verewigen lassen, macht also Heldinnen aus ihnen? Es zeigt vor allem, dass, selbst wenn Frauen sich von hergebrachten Rollen und Bildern zu distanzieren versuchen, sie sich oft weiter in den Denkmustern des Patriarchats bewegen.

Eine Frau, die ich als Heldin sehen kann, ist die vor Kurzem verstorbene französische Politikerin Simone Veil. Ich stehe da nicht alleine in Frankreich, denn auf den Druck der Öffentlichkeit hin hat der französische Präsident Emmanuel Macron Anfang Juli entschieden, sie im Pantheon, dem republikanischen Tempel, der die Helden der Nation ehrt, mit ihrem Ehemann beizusetzen. Die Shoah-Überlebende und Mutter von drei Kindern engagierte sich für Frauenrechte. Als Gesundheitsministerin ließ sie gegen große Widerstände das erste Gesetz für die Legalisierung der Abtreibung in Frankreich 1975 verabschieden. Ihr Feminismus beruhte nicht auf der Meinung, dass Frauen etwas Besseres seien oder dass ein Kampf zwischen den Geschlechtern nötig sei, sondern auf humanistischen Überzeugungen. Sie war überzeugt, dass Frauen etwas wichtiges Anderes einbringen können, und dass dieser Unterschied, "dieser Reichtum", die Forderung nach ihrer Gleichberechtigung in den Machtsphären rechtfertigt.

Für mich ist Simone Veil aber auch deshalb vorbildlich, weil sie sich nicht auf ein Thema, einen Kampf oder eine Kategorie reduzieren ließ, weil sie immer weit blickte und mehrere Perspektiven einnehmen konnte. Sie wird die fünfte Frau sein, die auf dem Pariser Hügel Sainte-Geneviève eine Ruhestätte bekommt, neben 72 Männern.

Bleibt Heldentum nicht einfach eine männliche Fantasie?

Damit sich ein Held in das Gedächtnis der Menschheit eingraben kann, muss auch ein wirksamer medialer Diskurs existieren. Nun wurde der Diskurs bis vor Kurzem fast ausschließlich von Männern bestimmt. Die historischen Heldinnen, die ich im Geschichtsunterricht kennenlernte, wurden so beschrieben, dass ich mich nicht mit ihnen identifizieren konnte: Jeanne d'Arc als opferbereite Jungfrau, Maria Theresia von Österreich und Katharina die Große als gnadenlose Politikerinnen mit männlichen Zügen, Letztere auch noch mit einem unbändigen sexuellen Appetit. Andere Frauenfiguren wie Marie Antoinette, Madame de Pompadour (die Mätresse von Ludwig XV.), Caterina de' Médici oder Kleopatra hatten wiederum typisch "weibliche" Attribute: frivol, kapriziös, konspirativ, manipulativ ... Die historischen Frauenfiguren, die mich interessiert hätten – Olympe de Gouges, die die erste Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin verfasste, oder die Widerstandskämpferin Lucie Aubrac – wurden mir nicht vorgestellt. Auch Simone de Beauvoir haben wir in der Schule nicht kennengelernt. 

Die Heldin soll opferbereit und extrem sexy sein

Im Kino war und ist es nicht viel anders – wie viele Regisseurinnen beim diesjährigen Festival von Cannes noch einmal zu Recht unterstrichen haben. Jessica Chastain, Agnès Jaoui, Maren Ade, alle diese bekannten und erfolgreichen Frauen bedauerten, dass es immer noch an weiblicher Vielfalt im Kino mangelt. Immerhin kam nun Wonder Woman, die berühmte Superheldin und Comicfigur, auf die Leinwand. Im ersten Teil des Films verfolgt man tatsächlich fasziniert den ironischen Blick der Amazone Diana alias Wonder Woman auf die patriarchale Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts. Die Heldin ist nicht nur stark, sie ist sensibel und hat Humor. Doch auch diese Amazone, die sich im Kampf für das Gute an die Front des Ersten Weltkriegs stürzt, bestätigt das alte Bild der moralischen Überlegenheit von Frauen, das im Patriarchat zu Hause ist, aber auch von manchen Feministinnen geteilt wurde.

Wonder Woman scheint wie eine Neuauflage der Jeanne d'Arc. Damit eine Frau sich durchsetzen kann, muss sie übernatürliche Kräfte besitzen, opferbereit und extrem sexy sein. Die Frage muss gestellt werden: Bleibt Heldentum nicht einfach eine männliche Fantasie? Sollte es für Frauen überhaupt ein Ziel sein, sich unter diesen Begriff einzureihen?
Anders sein und dazu stehen

Im Juni wurde im Frankfurter Opernhaus Jeanne d’Arc au bûchergespielt, ein Oratorium des Komponisten Arthur Honegger nach einem Text des Dramatikers Paul Claudel. In einem Interview erklärte die Schauspielerin Johanna Wokalek, die die Rolle der Johanna von Orléans übernahm, dass sie keine Heilige spiele, sondern "die Unverstandene, die für ihre Überzeugungen verbrannt werden soll. (…) Der laute Mob will sie vernichten, weil er das Anderssein der Jeanne d’Arc nicht erträgt". Anders sein und dazu stehen, trotz fast unüberbrückbarer Widerstände. Das ist eine neue Definition von Heldentum, die mir gefällt.

Ich werde Jeanne d'Arc zwar auch in Zukunft nicht als Heldin verehren können, weil das Bild der opferbereiten Jungfrau, das von den Rechten missbraucht wurde, noch zu stark in meiner Erinnerung ist. Aber nicht angepasst zu sein, furchtlos anders zu sein, scheint mir ein Wert, mit dem wir auch einer großen Herausforderung unserer Zeit, den vielfältigen unausgesprochenen Normierungen, begegnen können. Viele Frauen der Vergangenheit und der Gegenwart haben diese Haltung gelebt und auf Anerkennung verzichtet, auch auf posthume Anerkennung. Das ist vielleicht eine "weibliche" Qualität, die von der Heldenverehrung nicht erfasst wird.

Cécile Calla, 1977 geboren, war Korrespondentin der französischen Tageszeitung "Le Monde" und Chefredakteurin des deutsch-französischen Magazins "ParisBerlin". Als Herausgeberin entwickelt sie "Medusa", eine neue Zeitschrift für Frauen, die sich mit Politik, Gesellschaft, Kultur und Feminismus auseinandersetzt. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".


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