Fünf vor 8:00: Eine Kriegsbegegnung im Schatten des Doms - Die Morgenkolumne heute von Ludwig Greven

 
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FÜNF VOR 8:00
21.08.2017
 
 
 
   
 
Eine Kriegsbegegnung im Schatten des Doms
 
Krieg und Terror holen uns immer wieder ein, der eine als Auswuchs des anderen. In Barcelona. In Afghanistan und Syrien. Selbst im friedlichen, heiligen Köln.
VON LUDWIG GREVEN
 
   
 
 
   
 
   
Ein kleiner Andenkenladen am Kölner Dom. Vor dem Schaufenster hängen, neben allerlei Nippes, Tischsets mit Fotos der kriegszerstörten rheinischen Kapitale von 1945. Ich bin auf dem Weg zum Bahnhof. Ich stutze, bleibe stehen, gehe hinein, um nachzusehen, ob es in dem Geschäft noch mehr solcher "An-Denken" gibt.
 
Ich frage den alten Inhaber, ob er auch Bildbände mit Fotos von den Zerstörungen und dem Überleben in den Trümmern von damals hat. Er geht mit mir zu einer Vitrine, in der mehrere kleine, sehr gute Aufnahmen mit Trümmerbergen vor dem Dom stehen. Ich erwerbe eine und erkläre dem Inhaber, der erkennbar nicht aus Deutschland stammt, weshalb ich das Foto kaufe: Weil mein Vater aus Köln kam und als Wehrmachtsoffizier und überzeugter Nazi im Zweiten Weltkrieg an vielen Fronten gekämpft hat. Er hat wie die meisten seiner Tätergeneration nie mit uns Nachkriegskindern über den Krieg gesprochen. Auch viele der überlebenden Shoa-Opfer haben das nicht getan, aus Scham, weil sie mit dem Leben davon gekommen waren.
 
Aber mein Vater hat immer wieder berichtet, wie er 1946 aus britischer Kriegsgefangenschaft in seine zerstörte Heimatstadt heimkam und vor den Trümmern stand – die auch die seines eigenen verführten jungen Lebens waren. "Ich konnte den Dom sehen", sagte er dann jedes Mal mit Tränen in den Augen. "Das ging vorher nicht, weil davor ja all die alten schönen Häuser standen." Die gab es nicht mehr. Kein einziges. Nur Schutt, Asche, Schuld und Menschen, die verzweifelt zwischen den Trümmern Nazi-Deutschlands herumirrten.
 
Ich frage den Ladenbesitzer, als ich bezahle, wie lange er schon in Köln lebt. "Seit 20 Jahren", sagen er und seine Frau, die neben ihm steht und ein loses Kopftuch trägt. "Dann haben Sie die Trümmer ja nicht mehr gesehen", sage ich, "ich habe als Kind noch auf Trümmergrundstücken gespielt." "Doch", sagt er, "ich komme aus Afghanistan, ich war oft in Kabul und in Kandahar. Die sind genauso zerstört von dem Krieg, der seit Generationen in meiner Heimat tobt."
 
Er erzählt mir, dass er vor fast 30 Jahren mit seiner Frau und seinem damals dreijährigen Sohn vor den sowjetischen Invasionstruppen geflohen ist. Er beklagt, ohne Verbitterung in der Stimme, dass nicht nur Russen, sondern auch Amerikaner, Briten (zum zweiten Mal) "und auch Ihr Deutschen" in Afghanistan, seit er denken könne, Krieg führten, "neben Pakistanis, unserer eigenen Regierung, Osama Bin Laden, den Taliban und vielleicht 1000 schrecklichen Afghanen. Wenn es die alle nicht gäbe, dann wäre Afghanistan ein wunderschönes Land. Dann könnte ich dort mit meiner Familie leben."
 
Seine Frau, die bis dahin still zugehört hat, sagt, dass sie jede Nacht vom Krieg träume, aber auch von Frieden und Demokratie, "so wie hier bei Ihnen". Ihr Mann schweigt. Dann fängt er an zu weinen und berichtet mir, dass sein Sohn sich vor einem Jahr erhängt hat, mit 28 Jahren. "Er war ein guter Junge. Er hat studiert, er hätte alles werden können. Ich hätte ihm jeden Wunsch ermöglicht." Aber er habe nur den ganzen Tag und am Ende auch die Nächte vor dem Computer und an seinem Smartphone gehangen und verfolgt, was in Afghanistan jeden Tag passiert. "Das ließ ihn nicht los. All die Kämpfe, Anschläge und Toten. Er hat das nicht ertragen."
 
Es hört nie auf
 
Der Sohn sei in tiefe Depressionen versunken, habe kaum noch geschlafen und gegessen. Er habe ihm angeboten, sich schöne Kleidung zu kaufen, zu reisen, sich abzulenken von dem Schrecken in der Heimat seiner Eltern, die er aus eigener Anschauung nicht kannte, nur als ganz kleines Kind. Aber sein Sohn habe nur gesagt. "Warum soll ich mir coole Klamotten kaufen, warum soll ich reisen und einen guten Beruf ergreifen? Meine Freunde in unserem Land, die ich über das Internet kennengelernt habe, können das nicht." Im vergangenen Mai habe er dann an einem Strick gehangen, als der Vater aus seinem Andenkengeschäft mit den Kriegsbildern seiner neuen Heimat nach Hause kam.
 
"Er war nie in Afghanistan. Er hat niemandem etwas getan. Er hat die Trümmer und Leichen nur auf dem Bildschirm gesehen. Aber es hat ihm das Leben genommen", sagt der Vater mit schmerzerstickter Stimme.
 
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Mir steigen selbst Tränen in die Augen, aus Scham, Mitgefühl, eigenem Schmerz. Wir schauen uns nur an, zwei Väter. Der eine hat seinen geliebten Sohn verloren. Der andere seinen geliebten Bruder, vor mehr als 20 Jahren, fast auf den Tag genau 50 Jahre nach Kriegsende. Der Krieg steckte auch in ihm, wie ihn mir. Auch er hat sich erhängt.
 
Ich gebe dem Mann die Hand. Er hält sie lange fest. Ich frage ihn nach seinem Namen. Er nennt mir seinen Vornamen, ich sage ihm meinen. Wir schauen uns an und verabschieden uns. Was hätten wir noch sagen sollen?
 
Fanatisierte junge Muslime
 
Der Krieg lässt niemanden los. Egal wo, egal wann. Auch in der zweiten, dritten, vierten Generation. Er ist ein alttestamentarischer, deshalb auch jüdischer und muslimischer Fluch.
 
Der Terrorkrieg des "Islamischen Staates" hat jetzt in Spanien wieder Müttern, Vätern, Kindern ihre Söhne, Brüder, Schwestern, Väter und Mütter genommen, auch das einiger der offenbar vom IS verführten jungen, islamisch geprägten Täter. Es war nicht das Werk "fanatischer Lieferwagenfahrer", wie eine Kollegin hier auf ZEIT ONLINE schrieb. Es sind schließlich auch keine "fanatischen Pyrotechniker", die Heime von muslimischen, christlichen und atheistischen Flüchtlingen anzünden, sondern selbsterklärte, verführte Verteidiger des christlich-jüdischen Abendlandes. 
 
Nein, es waren einmal mehr junge fanatisierte Muslime, die sich gegen die Gesellschaft gewandt haben, in der auch sie zu Hause waren – "ganz normale Jungs", sagen die Nachbarn jetzt fassungslos über sie. Ihre Terrortaten haben sehr wohl auch mit ihrem Glauben zu tun. Wie Terror und Kriege sehr häufig mit Religion zu tun haben. Schon bei den Kreuzzügen, in Nordirland, Bosnien, Afghanistan, Syrien, Israel, den von ihm besetzten Palästinensergebieten. 
 
Selbst bei Hitler, der an nichts glaubte außer an sich und seine "Vorsehung". Der tat sich mit antisemitischen Arabern zusammen, um die Juden zu bekämpfen und zu vernichten. Auch deutschen Christen unterstützten ihn und kämpften bereitwillig für ihn und seine rassistischen Größenwahnvorstellungen. Gegen die "gottlosen" Kommunisten und Stalinisten in der Sowjetunion führte er einen ebenso schrecklichen Vernichtungskrieg. 
 
Es sind immer fanatisierte Anhänger, die sich zum Werkzeug des Krieges und des Terrors machen lassen. Und noch weit schlimmere Anführer, die noch weit mehr Schuld tragen. Von Generation zu Generation. Es hört nie auf.
   
 
 
   
   
 
 
   
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Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.