10 nach 8: Marion Detjen über Integration

 
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16.08.2017
 
 
 
 
10 nach 8


Bitte einreihen in die Leitkultur
 
Das Integrationsgesetz spiegelt perfekt die bayrische Mentalität: Mia san mia – richtet euch gefälligst danach. Es geht dabei nicht um Rassismus, sondern um Macht.
VON MARION DETJEN

Das bayrische Prinzip: Nicht auf das Fremde zugehen. © Johannes Simon/Getty Images
 
Das bayrische Prinzip: Nicht auf das Fremde zugehen. © Johannes Simon/Getty Images
 
 

"Integration: Leitkultur leben", steht auf den Wahlplakaten der CSU in Bayern, und da es Sommer ist, die Biergärten voll sind, das schöne Land in seinem Wohlstand strotzt, scheint an dieser Devise zunächst einmal nicht viel auszusetzen. Es wird ja wohl nicht so schwer sein, das Leben hier zu genießen und mitzumachen, egal wo wir herkommen. Wenn wir auch nicht wissen, was deutsche Leitkultur sein soll, so ist die Leitkultur in Oberbayern selbstbewusst genug, um definitorische Fragen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Die Leitkultur wird nicht diskutiert, sie wird praktiziert, indem es sich die Leute möglichst gut gehen lassen.

Ich habe unseren Sohn, einen Berliner, in einem Feriencamp des bayerischen Fußballverbands angemeldet, weil er dort einen Freund hat, aber auch, weil diese Camps wunderbar gut ausgestattet und organisiert sind, ohne elitär oder teuer zu sein. Breitensport als Kulturleistung, es funktioniert. Im Handumdrehen wird das Kind integriert und – fast – zu einem Bayern gemacht. Beeindruckt erzählt es uns abends von den coolen bayerischen Sprüchen und zitiert den Trainer mit Äußerungen, die auf eine liebevoll-ironische Großzügigkeit im Umgang mit seinen noch bestehenden "preißischen" Andersartigkeiten schließen lassen. Das Kind ist ein Hertha-Fan? Nicht tragisch: "Ma ko ja net ois ham." (Man kann ja nicht alles haben.) Die Bayern, das ist klar, fahren hier auf der Siegerspur, und dass da jemand kein Fan ist, juckt überhaupt nicht, ist höchstens ein Verlust für den, der sich da noch verweigert.

Wie steht es mit den Minderheiten? In der Mannschaft meines Sohnes sind alles oberbayerische, blonde Buben, plus ein Mädchen vom Schlage der dunkelhaarigen, kräftigen Bayerinnen, wie sie Lion Feuchtwanger in seinem München-Roman Erfolg beschrieben hat. Aber die gute Laune der Trainer und der Elternschaft lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass auch zwei-drei nicht nur Dunkelhaarige sondern auch Dunkelhäutige willkommen wären und ein Integrationsangebot bekämen.

Wer sich nicht integriert, ist selbst schuld

Wir gehen ins Gasthaus, wir gehen baden in einem Bergsee, wir essen Weißwürschtel, ich fange wieder an, so zu sprechen, wie ich vor meinem Wegzug aus Bayern gesprochen habe, hier gibt es – obwohl es nur ein Dorf ist – wirklich gute Blumenhändler, Ärzte, Steuerberater, eine super Sparkasse, eine Metzgerei, von der wir in Berlin nur träumen können, nette Nachbarskinder, einen "Helferkreis", der sich um die lokalen Flüchtlinge kümmert, sie in Lehrstellen bringt und eine eigene Fahrradwerkstatt betreibt, Behörden, die tatsächlich ans Telefon gehen, eine fette Grundschule, eine fette Realschule, eine fette Sonderschule, eine fette Volkshochschule und in der nahen Kleinstadt fette Gymnasien und jede Menge Arbeitgeber. Wer sich hier nicht integriert, ist wohl selbst schuld und soll halt nach Berlin ziehen. Ma ko ja net ois ham.

Der Wahlspruch "Integration: Leitkultur leben" ist genial, weil er die bayerische Lebensart in der produktiven Mischung von "Mia san mia" und "Leben und leben lassen" perfekt auf den Punkt bringt: Bayer, bleibe einfach, wie du bist, dann wird dir das Fremde zum Eigenen. Gerade indem du nicht auf das Fremde zugehst, leistest du deinen Integrationsbeitrag. Setze deine Kultur als dominant und bestehe auf cultural appropriation, das erspart dir nicht nur die Auseinandersetzung, sondern verkauft sich auch noch sehr gut. Bezahle deinen Profi-Fußballern erst so viel Geld, dass sie zu gar nichts mehr Nein sagen können, und dann stecke sie in Lederhosen und schicke sie auf die Wiesn, egal woher sie kommen, und lass sie für dich noch mehr Geld verdienen. 

Neuauflage des Ariernachweises

Warum brauchen die Bayern also ein Gesetz? Das bayerische Integrationsgesetz vom Dezember 2016 definiert Leitkultur als einen "identitätsbildende(n) Grundkonsens", der sich in der Praxis zeigen soll: Dieser "wird täglich in unserem Land gelebt und bildet die kulturelle Grundordnung der Gesellschaft". Woraus dieser Grundkonsens tatsächlich besteht, ist, wie gesagt, nicht so wichtig. Er umfasst allerhand Selbstverständliches, das schon im Grundgesetz steht, beruft sich auf das "gemeinsame christliche Abendland" und "weiß" angeblich "um den jüdischen Beitrag zu seiner Identität", was echt eine coole Behauptung ist; einen jüdischen Beitrag zur bayerischen Identität hätten sie neuerdings wohl gern. "Ganz Bayern ist geformt von gewachsenem Brauchtum, von Sitten und Traditionen." Da Brauchtum, Sitten und Traditionen nicht spezifiziert werden, muss sich auch niemand darauf festlegen, ob sie für ganz Bayern die gleichen sind oder auch unterschiedlich, sogar widersprüchlich sein dürfen. Zumindest kulinarisch ist das gewachsene Brauchtum der Flüchtlinge auf dem Christkindlmarkt bereits willkommen.

Dass diese Unbestimmtheit allerdings im Zweifelsfall keine Freiräume schaffen, sondern willkürlich Zwangsmittel ermöglichen soll, wird an anderer Stelle des Gesetzes deutlich: Den Migrantinnen und Migranten wird eine Pflicht auferlegt, und zwar "die im Rahmen ihres Gast- und Aufenthaltsstatus unabdingbare Achtung der Leitkultur". Achtung sollen sie haben, wenn sie auch nicht wissen, wovor. Aufgrund des Gesetzes können die Grundrechte auf Freiheit der Person, die Versammlungsfreiheit, die Unverletzlichkeit der Wohnung und des Eigentums eingeschränkt werden. Achtung vor den Grundrechten ist es demnach also wohl nicht. Oder Achtung nur vor den Rechten derjenigen, die die Leitkultur gepachtet haben? Der "Gast- und Aufenthaltsstatus" schließt die Migrantinnen und Migranten aus dem "Volk", das angeblich im Besitze des Grundkonsenses ist, aus. Dabei gelten die Regelungen des Gesetzes ausdrücklich auch für Deutsche, die irgendwie "integrationsbedürftig" sind, wenn sie "1. außerhalb der heutigen Grenzen der Bundesrepublik Deutschland geboren und nach 1955 in das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zugewandert sind oder 2. zumindest einen Eltern- oder Großelternteil haben, der die Bedingungen der Nr. 1 erfüllt." Das erscheint wie eine Neuauflage des Ariernachweises. Die "Stimme des Volkes", an die das Gesetz alle Staatsgewalt binden will, soll nicht nur bio-deutsch sein, sondern bio-deutsch bis ins dritte Glied. Offen bleibt die Frage, wer wohl die "Stimme des Volkes" in Bayern zu hören und zu interpretieren in der Lage ist; das muss wohl die Staatsgewalt selbst sein, in Gestalt der CSU. 

Das Gesetz öffnet der Staatsgewalt Tür und Tor, um selbst Recht zu brechen: um ohne Rücksicht auf den Aufenthaltsstatus die Freizügigkeit zu beschneiden, in Wohnungen ohne richterlichen Durchsuchungsbefehl einzudringen, Kindern den Schulbesuch zu verweigern, willkürlich hohe Geldbußen zu verhängen, den Besuch von Leitkultur-Depperlkursen vorzuschreiben, und was dergleichen Maßnahmen mehr sind, die die Menschen zwiebeln und schikanieren.

Opposition ist nicht erwünscht

Ich versuche, mir Situationen in dem Fußballcamp vorzustellen, die die Hüter dieses Gesetzes auf den Plan rufen würden. Ein muslimischer Trainer, der in der Pause am Rand des Spielfeldes einen Teppich ausrollt, um darauf zu beten, wird davon gejagt. Oder er wird nicht davon gejagt, und deshalb muss der Verein im nächsten Jahr ohne die öffentlichen Zuschüsse auskommen. Kinder von Asylbewerbern werden ausgeschlossen, oder sie werden nicht ausgeschlossen, und deshalb muss der Verein im nächsten Jahr ohne Zuschüsse auskommen. Zum Mittagessen darf es keinen Döner geben, zum Mittagessen darf es aber Pizza geben, Pommes und Spaghetti sind ebenfalls okay. Hijab zu tragen ist verboten. Trikots mit Etihad-Airline-Werbung sind erlaubt. Seinen Kumpel "Habibi" zu nennen, ist verboten. "Ciao" und "Merci" zu sagen, geht. So absurd das alles ist, so ist es doch realistisch.

In der Fußgängerzone der nahen Kleinstadt haben wir einen Bayern mit prächtigem Schnauzbart gesichtet, der sich die Wadelstrümpf, ob man es glaubt oder nicht, auf die nackten Unterschenkel tätowiert hat, mit einem sehr komplizierten und sicherlich authentischen Strickmuster in Grau und Grün. Wie das Strumpf-Tattoo von Messi. Bei den heißen Temperaturen durchaus vernünftig. Sind Tätowierungen nicht ursprünglich aus Südostasien und in der Bibel verboten? Es könnte der Tag kommen, an dem der Mann erlebt, dass irgendwelche Feinde, die er hat, ihm anlasten, dass sein auf die Haut geschriebenes kulturelles Bekenntnis die Achtung vor der deutschen Leitkultur missen lässt, egal wie deutsch und bayerisch er sich wähnt.

Es geht um Macht

Gibt es irgendeine inhaltliche Festlegung, die uns helfen könnte, die Absicht des Gesetzes zu verstehen? Man ahnt zwar, dass es sich vor allem gegen Muslime richtet; explizit wird dies jedoch an keiner Stelle. Es würde auch wenig Sinn machen, gerade im bayerischen Kontext nicht. Ich mache jetzt doch mal eine Aussage über die bayerische Identität: Diese hat sich als sehr flexibel erwiesen, solange sie nur religiös bleiben durfte. Vor hundert Jahren war sie rein katholisch, die protestantische "Diaspora" in Bayern war für unsere Familie noch alles andere als spaßig, mein Großvater hatte als Kind panische Angst vor Fronleichnamsumzügen. Zeitgleich mit der Gründung der CSU wurde die Identität katholisch-protestantisch-christlich, seit den siebziger Jahren hat die evangelische Minderheit in unserem Dorf eine eigene Kirche, heute leitet der evangelische Pfarrer gemeinsam mit dem katholischen Priester den Helferkreis für die Flüchtlinge. Wo nun auch das Jüdische für die bayerische Identität vereinnahmt wird, ist es doch nur eine Frage des Willens, das Muslimische mit dazu zu nehmen. In Penzberg steht schon seit 2005 eine sehr schöne, mit Minarett ausgestattete Moschee, die sich Islamisches Forum nennt und sich als Einrichtung der Begegnung und des Austauschs versteht. 2010 hat sich die CSU mit den Muslimen in der Schweiz solidarisiert, als dort Minarette verboten wurden, denn die Partei weiß: "Wer heute Minarette verbietet, wird morgen Kirchtürme schleifen und Kreuze abhängen." Ich traue ihr zu, dass sie clever genug ist, um sich eines Tages in "Religiös-Soziale Union" (RSU) umzutaufen, Dirndl-Hijabs zu schneidern und den örtlichen Imam in den Gemeinderat zu bitten.

Letztlich geht es der "Leitkultur" nicht um "-kultur", sondern nur um das "Leit-". Es geht um die Macht, in Bayern um die Macht der CSU und um die Macht all derjenigen, die nichts anderes kennen als oben zu schwimmen und die Bestimmer zu sein, und die deshalb ihre Bestimmerrolle mit dem gewachsenen Brauchtum, der Sitte und Tradition identifizieren. "In der Debatte um Integration in Deutschland muss klar sein, wer sich nach wem zu richten hat", ist das schlichte Prinzip, zu dem sich der CSU-Generalsekretär offen bekennt. Es geht darum, wer der Ober und wer der Unter ist, und wer dem anderen zeigen darf, wo der Bartl den Most holt. Die "unabdingbare Achtung der Leitkultur" heißt nichts weiter als die Verpflichtung für Neuankömmlinge in Bayern, bis ins dritte Glied still und unauffällig zu sein, sich Arbeit und ein Plätzchen zu suchen, aber keinesfalls mitzusprechen bei den Verhandlungen darüber, was genau sie zu achten haben, oder am Machtgefüge zu nackeln. 

Hang zur Subversion

Darin liegt die Rationalität des Gesetzes, und es scheint, dass sie mit dem Begriff des Rassismus nicht erfasst wird, auch nicht mit dem Begriff des "kulturellen Rassismus", weil auf eine Essenzialisierung kultureller Unterschiede ja eben gerade verzichtet wird. Und diese Rationalität ist ernst zu nehmen. Denn die, die integriert werden sollen, bringen ja tatsächlich unbequeme Erfahrungen und Erinnerungen mit, die für die CSU höchst störend wären, hätten sie hier eine politische Stimme. Sie haben ein schmerzhaftes, bitteres Wissen um die ungemütlichen Zusammenhänge zwischen dem, was wir hier tun und lassen, und dem, was in ihren zerstörten Heimatländern geschieht. Während uns Fragen des Schweinebratens umtreiben, bombardiert die US-geführte Militärkoalition Rakka und tötet unabsichtlich Dutzende von Unschuldigen, mit unserer Hilfe.

Die Menschen, die in diesen Regionen Angehörige haben, müssen aushalten, mit diesem Widerspruch zu leben. Sie müssen aushalten, dass die von uns gewählten Regierungen mit jeder x-beliebigen Diktatur Deals machen und die sonst so gern beschworenen "westlichen" Werte verraten, wenn es nur dazu dient, Leute wie sie von uns fernzuhalten. Sie müssen damit klarkommen, dass sie hier unerwünscht sind und dass alles getan wird, um sie nach Hause zu schicken und ihre Angehörigen nicht hereinzulassen. Viele von ihnen haben in der Revolution für die Freiheit gekämpft. Jetzt sollen sie verstehen, dass unsere Bundeskanzlerin die Stasi-Gedenkstätte in Hohenschönhausen braucht, um an die Wichtigkeit von Freiheit und Demokratie erinnert zu werden, während der Westen sich mit dem Assad-Regime arrangiert und es gegenüber dem IS als kleineres Übel behandelt, nicht nur aus Hilflosigkeit, sondern auch aus Egoismus, weil das Assad-Regime uns nicht direkt zu bedrohen scheint, und ignorierend, dass der IS ohne Assad nur ein kleines Häuflein von Spinnern wäre. Die Desillusionierung und Hoffnungslosigkeit, mit der die "Flüchtlinge" hier klarzukommen haben, wird sich in der Tat nicht mit ein paar Deutschkursen und Begegnungszentren erledigen. Sie wird über Generationen fortwirken, so lange die kommunikative Erinnerung in den Familien lebt.

Fremd ist der Fremde nur in der Fremde, und Opposition brauchen wir nicht, weil wir sind ja schon Demokraten. Zum Glück ist das Bayerische nicht nur flexibel. Es hat auch einen Hang zur Subversivität, es rechnet auch Karl Valentin und Gerhard Polt zu seiner Tradition. Mein Sohn ist ja vor allem deshalb kein FC-Bayern-Fan, weil er das ewige Siegen langweilig findet. "Integration: Leitkultur leben" ist an und für sich nicht falsch, wir sollten es nur nicht der CSU überlassen.

Marion Detjen ist Historikerin am Zentrum für Zeithistorische Forschung. Ihre Schwerpunkte liegen auf der deutsch-deutschen Migrationsgeschichte, Gender und den Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Sie ist Mitglied der Redaktion von "10 nach 8".


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