Fünf vor 8:00: Jamaika oder GroKo - Die Morgenkolumne heute von Ludwig Greven

 
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FÜNF VOR 8:00
15.08.2017
 
 
 
   
 
Jamaika oder GroKo
 
Union und SPD möchten nach der Bundestagswahl ihr Dauerbündnis beenden. Einige aus der CDU propagieren daher das Kieler Modell. Das ist aber kein Selbstläufer.
VON LUDWIG GREVEN
 
   
 
 
   
 
   
Die Bundestagswahl verspricht so langweilig zu werden wie die ebenfalls bevorstehende neue Bundesliga-Saison. Dass Angela Merkel erneut Kanzlerin wird und Bayern München wieder Meister, gilt als so gut wie sicher. Spannend ist in beiden Fällen allenfalls, wer hinter ihnen mit welchem Abstand Zweiter, Dritter, Vierter wird und welcher Verein, welche Partei es zurück oder zum ersten Mal in die höchste Spielklasse schafft.
 
Einen großen Unterschied gibt es allerdings: Im Fußball siegt die Bayern-Truppe allein. In der Politik und bei der Bundestagswahl ist das anders. Der letzte alleinige Wahlsieg der Union im Bund liegt ziemlich exakt ein halbes Jahrhundert zurück: Am 15. September 1967 holte sie zum einzigen Mal die absolute Mehrheit. Seitdem musste sie sich immer einen Koalitionspartner suchen, um regieren zu können, ebenso wie die SPD in den Zeiten, als sie den Kanzler stellte.
 
Bis 1998 war das – mit Ausnahme der ersten großen Koalition von 1966 bis 1969 – stets die FDP. Seitdem aber hat sich die Parteienlandschaft breit aufgefächert. Die beiden ehemals großen Parteien sind kleiner geworden, die SPD ist gar zu einer mittleren Partei geschrumpft, die im Bund allenfalls mit zwei anderen, noch kleineren Parteien – und auch das nur unter sehr günstigen Umständen – eine Chance hat, nach 2005 wieder einen der ihren zum Kanzler zu machen. In diesem Jahr reicht es dafür, trotz Martin Schulz, höchstwahrscheinlich nicht, weil sie selbst zu schwach ist und bleibt.
 
Aber auch die Union hat – trotz Merkel – wohl keine realistische Aussicht, allein zu regieren. Vor vier Jahren schrammte sie nur deshalb knapp an der absoluten Mehrheit der Mandate – nicht der Stimmen – vorbei, weil FDP und AfD ganz knapp an der Fünfprozenthürde scheiterten. Am 24. September könnte es nach den aktuellen Umfragen selbst für Schwarz-Gelb eng werden. Abgesehen davon, dass ein solches Bündnis für beide Parteien nach den schrecklichen, für die FDP am Ende verheerenden, Erfahrungen von 2009 bis 2013 keineswegs ein Wunschtraum ist.
 
Deshalb kommt jetzt, zu Beginn der wärmeren, längst noch nicht heißen Wahlkampf-Endphase mal wieder die Zeit der echten oder eingebildeten Strategen. Wie zum Beispiel des neuen Ministerpräsidenten in Kiel, Daniel Günther. Der brauchte wegen des miserablen Wahlergebnisses seiner Nord-CDU gleich zwei Partner, nämlich Grüne und FDP, um seinen erfolglosen SPD-Vorgänger, dessen Namen die meisten schon vergessen haben dürften, abzulösen.
 
Günther empfiehlt sein Notbündnis im kleinsten Flächenland zwischen den Meeren, das von ihm und den anderen Beteiligten völlig zu Unrecht als bahnbrechendes Zukunftsmodell gepriesen wird, allen Ernstes als großes Vorbild für den Bund. Und das, obwohl es lediglich die Not im armen Norden ein wenig anders verwalten will. Allerdings, und ab hier wird es ernster: Es könnte nach dem 24. September tatsächlich so kommen, dass auch Merkel nichts anderes übrig bleibt, als FDP und Grüne zu Sondierungsgesprächen einzuladen, wenn sie die mittelgroße Koalition mit der SPD nicht zum Dauerzustand machen will. Das könnte nämlich ähnlich verheerende Folgen haben wie in Österreich, ein Ausfransen nach rechts und rechtsaußen, in Deutschland ein Wiedererstarken der AfD oder noch schlimmerer Kräfte. Auch in der SPD sagen viele: Es reicht, Schluss mit der GroKo.
 
Wer mag Lindner?
 
Eine Jamaikakoalition in Berlin würde allerdings wesentlich schwieriger als im vergleichsweise unbedeutenden Schleswig-Holstein oder im noch unbedeutenderen Saarland, wo es Schwarz-Grün-Gelb auch schon mal für drei Jahre gab. Im Bund geht es um gravierende nationale, europäische und internationale Fragen, nicht um den Weiterbau der A20 oder ein Vogelschutzgebiet. Und da liegen zwischen Union, FDP und Grünen zum Teil Welten. Von persönlichen Befindlichkeiten nicht zu reden.
 
Ein Einwanderungsgesetz als verbindendes Projekt
 
So würde zum Beispiel Grünen-Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt sicherlich nur zu gerne mit Angela Merkel am Kabinettstisch Platz nehmen. Die beiden kennen und schätzen sich. Ganz anders sieht es mit Christian Lindner aus. Die Grünen mögen den aktuellen FDP-Chef, der seiner Partei wieder ein wenig Leben, wenn auch nicht unbedingt neuen Geist, eingehaucht hat, überhaupt nicht. Und Merkel mag ihn, nach dem, was man hört, auch nicht besonders. Er ist ihr zu frech, manchmal auch zu populistisch, gelegentlich fast rechtspopulistisch wie bei seinem halbstarken Widerspruch gegen ihre Willkommenspolitik. Oder jüngst mit seiner Forderung, Putins russische Eroberung der Krim, und damit die erste Grenzverschiebung in Europa seit 1945, einfach so offiziell als gegeben anzuerkennen.
 
Lindner ist sicherlich kein neuer Westerwelle, der mit seinem Geschrei von der spätrömischen Dekadenz das Land und die Kanzlerin verschreckte. Aber der persönliche Umgang in Koalitionen bleibt an den Beteiligten und selbst an nicht direkt Involvierten haften und bestimmt die Bereitschaft oder Nichtbereitschaft mit, sich noch einmal auf ein solches Abenteuer einzulassen. Jamaika hätte deshalb für Merkel den Charme, dass die FDP von den Grünen gewissermaßen eingehegt würde. Wie umgekehrt die Grünen durch die FDP, obwohl anzunehmen ist, dass ihr – als Abschluss ihrer langen Kanzlerschaft mit wechselnden Partnern – ein (zahlenmäßig unwahrscheinliches) schwarz-grünes Bündnis lieber wäre als ein schwarz-gelbes.
 
Ein "historisches" Bündnis auf Zeit
 
Neben diesen Animositäten müssten sich die drei Parteien auf gemeinsame Linien in den verschiedensten Politikfeldern verständigen. Die Differenzen sind groß, aber nicht unüberbrückbar. So könnte eine Jamaikakoalition tatsächlich, wie Günther propagiert, als wahrscheinlich einzige Konstellation ein überfälliges Einwanderungsgesetz auf den Weg bringen. Nicht obwohl, sondern gerade weil CDU und CSU gegen eine verstärkte Einwanderung sind und die Grünen gegen all zu hohe Barrieren. Mit einem Kompromiss ihrer antagonistischen Positionen könnten sie, unter Vermittlung der FDP, eine zentrale innenpolitische und gesellschaftliche Frage lösen und für Zustimmung in breiten Teilen der Bevölkerung zu einer modernen Einwanderungs- und Integrationspolitik werben. Rot-Grün oder Rot-Rot-Grün – beides (auch) nummerisch ausgeschlossene Bündnisse – würde das nicht gelingen, weil der Widerstand von CDU und erst recht der CSU sowie in der Bevölkerung dann zu groß wäre.
 
Eine Jamaikakoalition könnte so betrachtet tatsächlich ein historisches Bündnis auf Zeit werden aus konservativem, liberalem und Öko-Bürgertum mit einem Schuss ehemals oder noch immer linker Kräfte. Falls die Mehrheitsverhältnisse im neugewählten Bundestag es erfordern und die drei Parteien den Mut dazu haben.
 
Der Charme einer (unwahrscheinlichen) Ampelkoalition
 
Auf der anderen Seite könnte natürlich auch eine Ampelkoalition aus SPD, FDP und Grünen ein bedeutungsreiches, erfolgreiches Bündnis werden, als späte Erweiterung der ehemaligen sozialliberalen Koalition von Willy Brandt und Helmut Schmidt: eine Verbindung der ehemals linken sozialdemokratischen Partei der Arbeitnehmer mit dem wirtschaftsliberalen Bürgertum in Form der FDP und öko-, links- und bürgerrechtsliberalen Grünen.
 
Allerdings stehen die Chancen dafür schlecht. Die einzigen realistischem Alternativen für den 24. September heißen deshalb aus meiner Sicht nach jetzigem Stand: vier weitere Jahre (mittel)große Koalition oder Jamaika, eventuell auch Schwarz-Gelb ohne Grüne.
 
   
 
 
   
   
 
 
   
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Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.