Fünf vor 8:00: Eine Geschichte aus zwei Asylwelten - Die Morgenkolumne heute von Jochen Bittner

 
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FÜNF VOR 8:00
03.08.2017
 
 
 
   
 
Eine Geschichte aus zwei Asylwelten
 
Dürfte man im Laufe des Wahlkampfes vielleicht noch erfahren, wie die SPD zu Flucht und Migration steht?
VON JOCHEN BITTNER
 
   
 
 
   
 
   
In einer idealen Verwaltungswelt würde man sich die Versöhnung zwischen den Schutzinteressen von Geflüchteten und den Schutzinteressen des Staates ungefähr so vorstellen: Wer Asyl beantragt, ohne ein Ausweisdokument vorzuweisen, der wird zwar nicht abgewiesen, darf aber auch nicht erwarten, ins Land gelassen zu werden. Er bliebe sozusagen in einem sicheren Wartezimmer.
 
Wäre ich ein Geflüchteter und besäße keine Papiere, ich würde diesen Kompromiss verstehen, denke ich. Und ich würde in dem Wartezimmer alles daran setzen, meine Identität nachzuweisen; Details meines Herkunftslands beschreiben und natürlich meine Smartphone-Inhalte auswerten lassen. Im Gegenzug würde ich erwarten, dass der Staat innerhalb einer erträglichen Zeitspanne über meinen Asylantrag entscheidet.
 
Fiele diese Entscheidung negativ aus, würde ich als Nächstes hoffen, Asyl in, sagen wir, Bayern, und nicht etwa in Kanada beantragt zu haben. In dessen Verwaltungswelt geht es nämlich etwas rigoroser zu als in der deutschen. In Kanada dürfen abgelehnte Asylbewerber, deren Heimatstaaten die Rücknahme verweigern, auf unbestimmte Zeit in Hochsicherheitsgefängnissen festgehalten werden. Derzeit betrifft dies einige Tausend Menschen. Einige ablehnte Immigranten sitzen seit mehreren Jahren hinter Gittern.
 
Obwohl der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen Kanada schon vor zwei Jahren aufgefordert hat, eine "vernünftige" Begrenzung für Abschiebungshaftzeiten vorzulegen, hat sich bis heute daran nichts geändert. In der vergangenen Woche bestätigte ein Bundesrichter, das Gesetz, welches die unbegrenzte Abschiebehaft erlaubt, verstoße nicht gegen Grundrechte.
 
Ich halte die kanadische Praxis für unvereinbar mit rechtsstaatlichen Grundsätzen, ganz einfach deswegen, weil auch ein versuchter Asylbetrug nicht zu einer unbestimmt langen De-facto-Inhaftierung führen darf. Die Tatsache allein, dass sich kein Rückführungsland findet, kann nicht zu einem Leben in Unfreiheit führen.
 
Der andere Extremfall, das einer viel zu laschen Verwaltungswelt, ist Deutschland. Hier reicht es, seinen Pass zu entsorgen, um sich möglichst lange frei im Land bewegen zu können. Denn ohne Papiere drohen in der Regel weder Sicherungshaft noch Abschiebung, sprich: nur Vorteile für jemanden, der davon ausgeht, ohnehin kein Asyl zu bekommen.
 
Ich nehme an, diese Laxheit hat damit zu tun, dass sich diese Gesellschaft aus historischen Gründen eine Art hippokratischen Eid gegenüber jedermann auferlegt hat, der Verfolgung behauptet, einen Non-nocere-Grundsatz: Bloß nicht schaden! Daran ist erst einmal nichts verkehrt. Bedenkliche Folgen hat diese hohe moralische Selbstverpflichtung nur dann, wenn sie dazu führt, dass schon die Frage nach notwendigen Abwägungen und harten Entscheidungen allergische Reaktionen auslöst. Diese Überempfindlichkeit ist vor allem bei Sozialdemokraten zu beobachten.
 
Die Idee von Transitzonen, also Wartezimmern für Asylantragssteller ohne Identitätsdokumente, nennt der stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende Ralf Stegner "verfassungswidrig und unpraktikabel". Warum dies so sei, verrät er nicht. Andere Sozialdemokraten bezeichnen spezielle Erstaufnahmeeinrichtungen für Asylbewerber ohne Papiere als "Internierungslager" (der Begriff stammt aus dem Kriegsrecht); solche Anstalten zu bauen, torpediere Integrationsbemühungen, findet zum Beispiel die Regensburger SPD-Stadträtin Evelyn Kolbe-Stockert.
 
Das stimmt, könnte man Frau Kolbe-Stockert entgegnen. Denn: Asylbewerber, von denen man nicht weiß, wer sie sind, sollten auch erst einmal gar nicht integriert werden. Diese Mühe konzentriert man doch besser auf anerkannte Flüchtlinge, oder?
 
Völlig fern liegt vielen SPD-Politikern offenbar der Gedanke, unter den Migranten könne sich herumgesprochen haben, dass man in Deutschland die mittelfristig beste Aufenthaltsperspektive hat, wenn man seine wahre Herkunft und sein wahres Alter verschweigt (minderjährige unbegleitete Asylbewerber dürfen nicht einmal in einen anderen EU-Staat abgeschoben werden). Dies könnte mindestens eine Teilerklärung dafür sein, warum etwa 70 Prozent aller Asylantragsteller keine Papiere vorlegen. Statt diese Möglichkeit überhaupt in Erwägung zu ziehen, verbreitet etwa der sozialdemokratische niedersächsische Innenminister Boris Pistorius weiterhin die Behauptung: "Es gibt nun mal Länder, die keine Pässe ausstellen." Welche Länder dies genau sein sollen, kann einem allerdings niemand sagen, weder in Hannoveraner noch in Berliner Ministerien.
 
Pistorius gehört allerdings zu den SPD-Politikern, denen allmählich dämmert, dass es eine Asylpolitik ohne Härte nicht geben kann. Deswegen schlug er vor, die EU oder die UN sollten in Libyen Auffanglager betreiben, um dort Verfolgte von Migranten oder Aussicht auf ein Bleiberecht trennen zu können. Burkhard Lischka, der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagesfraktion, sagte schon im Dezember, Migranten, bei denen Zweifel an der Identität besteht, "sollten bis zur Klärung in speziellen Erstaufnahmeeinrichtungen bleiben". Dies hat Lischka jetzt, nach der islamistisch motivierten Messerattacke eines passlosen Asylbewerbers in Hamburg, noch einmal bekräftigt.
 
Offenbar gibt es in der SPD einen nach außen unerklärten Streit zwischen Moralos wie Stegner und Realos wie Lischka. Vielleicht dürfte man im Laufe dieses Wahlkampfes noch erfahren, für welche Welt sich die Schulz-Partei sich denn nun entscheiden möchte – für den Acker der realen Probleme oder für den Wachturm auf der moralischen Anhöhe?
   
 
   
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Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.