Fünf vor 8:00: Wir hängen tief mit drin in Afghanistan - Die Morgenkolumne heute von Theo Sommer

 
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FÜNF VOR 8:00
05.02.2019
 
 
 
   
 
Wir hängen tief mit drin in Afghanistan
 
Die USA allein können in Afghanistan keinen Ausweg aus der Katastrophe finden. Es wird keinen Sieg geben – aber auch keinen Frieden, wenn nicht alle aktiv mithelfen.
VON THEO SOMMER
 
   
 
 
   
 
   

Vor knapp einem Jahr hat Wolfgang Bauer in der ZEIT geschrieben: "Wir sind in Afghanistan am Ende. Am Ende mit unseren militärischen wie zivilen Plänen ..." Die Bundesregierung verschloss sich dieser bitteren Erkenntnis. Es gebe Grund zur Zuversicht, argumentierte sie. Im März 2018 verlängerte der Bundestag den Einsatz der Bundeswehr im Rahmen der Nato-Mission Resolute Support um ein Jahr, bis zu 1.300 deutsche Soldatinnen und Soldaten sollen dort die afghanische Armee befähigen, "ihrer Sicherheitsverantwortung nachzukommen".
 
Nächsten Monat muss das Parlament erneut entscheiden, wie es in Afghanistan weitergehen soll. Es muss einen Beschluss in einem Augenblick fällen, da Donald Trump angekündigt hat, das US-Truppenkontingent am Hindukusch von 14.000 auf 7.000 Mann zu reduzieren, und in dem gleichzeitig sein Sonderbeauftragter Zalmay Khalilzad in Katar versucht, die Taliban zu einer Friedenslösung zu überreden. Deren Kernpunkt wäre der Abzug der amerikanischen Truppen gegen das Versprechen der Aufständischen, Terroristen wie der Al-Kaida nicht aufs Neue eine Aktionsbasis zu gewähren. Parallele Gespräche, teilweise unter russischem Patronat, haben auch in Moskau, Taschkent und Genf stattgefunden.
 
Dem nüchternen Blick bietet sich die Ausgangslage nicht unbedingt vielversprechend an. Drei Einsichten sind unabweisbar:
 
Erstens: Afghanistan ist weit entfernt von Stabilität. Die Regierung kontrolliert ein Gebiet, in dem zwei Drittel der Bevölkerung leben, doch die Taliban oder noch radikalere Gruppen wie der "Islamische Staat" beherrschen fast die Hälfte des Staatsgebiets, 56 Prozent der rund 400 Distrikte laut Pentagon, und sie sind in der Lage, überall anzugreifen, selbst in der Hauptstadt Kabul. Keine Woche, kaum ein Tag vergeht ohne Anschlag; die meisten Opfer sind Zivilisten. Die Regierung ist zerstritten, ihre Macht endet an den Grenzen der Provinzen, in denen brutale Warlords herrschen. Korruption durchdringt alle Bereiche. Die Kriegsherren, Stammesführer, Clan-Chefs und die Drogenmafia kontrollieren weite Teile des Landes. Immer noch ist die Opiumherstellung aus Schlafmohn, die den weltweiten Drogenmarkt überschwemmt, der größte Produktionszweig; 2017 erreichte sie 9.000 Tonnen.
 
Zweitens: Es gibt in Afghanistan keine realistische Aussicht auf einen militärischen Sieg über die Taliban. Was mehr als 100.000 alliierte Soldaten in 17 Jahren nicht geschafft haben, werden 14.000 oder 7.000 erst recht nicht schaffen. Die afghanischen Streitkräfte jedoch werden nicht in der Lage sein, das Land zu verteidigen. Die westlichen Ertüchtigungsversuche haben wenig gebracht. Die 315.000-Mann-Regierungstruppen sind besser geworden, aber nicht gut genug, um je die Taliban zu besiegen. Im vergangenen Jahr haben Armee und Polizei in Gefechten und Scharmützeln oder durch Fahnenflucht 35.000 Sicherheitskräfte verloren. Es mangelt dem Militär an Durchschlagskraft und an öffentlicher Unterstützung, wohingegen die Taliban im Lande wie in Pakistan beträchtlichen Rückhalt finden.
 
Drittens: Es gibt keine Gewissheit, dass die verschiedenen diplomatischen Bemühungen zu einem Erfolg führen. Es ist illusorisch, noch eine nachhaltige Verwurzelung der Demokratie zu erwarten. Bisher ist bei den Gesprächen nichts herausgekommen, was den Verbündeten akzeptabel erschien. Wenn es diesmal anders ausgehen soll, müssten sich wohl alle dazu durchringen, eine Taliban-light-Lösung zu akzeptieren. Sind wir dazu bereit?

Der Afghanistankrieg geht mittlerweile ins 19. Jahr. Die Amerikaner kostet er jährlich 45 Milliarden Dollar. Seit 2001, als sie nach 9/11 gegen Al-Kaida zu Felde zogen, haben sie rund 1.000 Milliarden bezahlt; und wohl das Doppelte, rechnet man die Gesundheitsversorgung der Kriegsveteranen hinzu.
 
Die Bundeswehr steht seit Dezember 2001 in Afghanistan. In den ersten zehn Jahren gab die Bundesregierung offiziell 6,1 Milliarden Euro für den Einsatz aus, dazu 1,7 Milliarden für den Wiederaufbau; einen Gesamtaufwand von 8,9 Milliarden nannte das Verteidigungsministerium bis 2015; 10 Milliarden für den Stabilisierungseinsatz ist die letzte zu ermittelnde Angabe (warum sollte die Buchhaltung des Ministeriums besser funktionieren als der Rest?). Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin (DIW), das Neben- und Folgekosten mit erfasst, kommt auf 18 bis 33 Milliarden Euro.
 
Die Frage ist nicht bloß: Wie viel mehr wollen wir eigentlich noch ausgeben für einen wirkungslosen Einsatz? Dringlicher ist die Frage: Wie lange wollen wir noch in einem endlosen Krieg bleiben, der nicht zu gewinnen ist? Reicht wirklich zur Begründung: Wir bleiben, weil wir nun einmal da sind? Wir bleiben, bis die Sicherheitslage es erlaubt zu gehen, sagt die Bundesverteidigungsministerin. Die wird es freilich nie erlauben. Also?
 
Richard Haass, früher Planungschef im U.S. State Department, jetzt Präsident des New Yorker Council on Foreign Relations, plädiert für eine Politik, welche die Risiken eines abrupten und bedingungslosen Abzugs, aber zugleich auch die Risiken ewigen Verbleibs minimiert: kein Sieg, kein Frieden, Aufrechterhaltung indes einer Minimalpräsenz zum Schutz der Regierung. Ganz traut er dieser Lösung dann doch nicht. Deswegen macht er einen Vorschlag, den ich voll unterschreiben kann.
 
Afghanistan hat sechs Nachbarn, darunter der Iran, China, Pakistan. Daneben haben auch Russland, Indien, die USA und die EU ein Interesse daran, dass das Land nicht aufs Neue zu einer Bastion des Terrorismus und zu einem Zentrum des Drogenhandels wird. Ruft sie alle zusammen, sagt Haass, und lasst sie das Problem lösen. Es ist eine Idee, die ein Bismarck und auch ein Henry Kissinger aufgegriffen hätten. Sie würde Merkel, Maas und von der Leyen gut anstehen.
 
"Es ist relativ einfach, den Entschluss zu fassen, in ein fremdes Land einzumarschieren", hat Helmut Schmidt einmal gesagt. "Aber es ist beinahe unmöglich, wieder abzuziehen, wenn man nicht Mord und Totschlag und Katastrophe hinterlassen will."
 
Recht hatte er. Die Amerikaner haben nicht auf ihn gehört. Deswegen darf man es jetzt auch nicht allein Trump überlassen, den Ausweg aus der Katastrophe zu finden. Eine ausführliche Bundestagsdebatte sollte den deutschen Standpunkt klären. Wir hängen tief mit drin in Afghanistan. Höchste Zeit, dass wir mehr als solidarische Sprechblasen produzieren.

 


 
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Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.