Die Wagner-Frage, ganz kleine Variante Der Ballettstar Sergei Polunin polarisiert mit reaktionären Ansichten und seiner Putin-Verehrung. Aber: Er tanzt schön. Alles andere kann dem Publikum doch egal sein. VON CATHERINE NEWMARK |
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| | Der Balletttänzer Sergei Polunin © Neil Hall/Reuters |
Es gibt auf YouTube ein vier Minuten langes Filmchen, das in den vergangenen vier Jahren gut 26 Millionen Erdenbürger angeklickt haben, ich für meinen Teil in jüngster Zeit deutlich zu oft. Das Video enthält eine Reihe süchtig machender Elemente: einen dramatisch anschwellenden Ohrwurmsong (vom irischen Sänger Hozier), eine überperfekte Licht- und Sonneästhetik (vom US-amerikanischen Künstler David LaChapelle) und, zweifellos die Hauptingredienz: einen sehr schönen, tätowierten und fast nackten Mann, der ästhetisch vor sich hinleidet und Ballettsprünge und Pirouetten von erschütternder Leichtigkeit und Präzision zur Schau stellt: Sergei Polunin.
Der ukrainischstämmige, mittlerweile auch einen russischen Pass besitzende Tänzer hat in den letzten zwei Monaten Skandälchen nach Skandälchen ausgelöst: durch homophobe (oder zumindest einem grob reaktionären Männerbild entspringende) Äußerungen auf Instagram; durch die öffentliche Verehrung Wladimir Putins, den er als "Lichtgestalt" bezeichnet und dessen Gesicht er der bereits eindrücklichen Tattoosammlung auf seinem Oberkörper hinzugefügt hat; durch die sich plötzlich bahnbrechende Erkenntnis, dass das schon länger bestehende fette Tattoorad um seinen Bauchnabel herum in Tat und Wahrheit ein Kolovrat-Symbol ist, ein in der Neonaziszene beliebtes Zeichen. Eine Einladung als Gasttänzer an der Pariser Oper wurde im Januar infolge öffentlichen und internen Protestes zurückgezogen; eine ebensolche in München nicht.
Die allgemeine Empörung und die lautstark geäußerten Forderungen, jemanden mit Polunins sowohl schriftlich in der Welt stehenden (wenngleich sein Instagram-Account inzwischen offline gegangen ist) als auch körperlich sichtbaren Meinungen nicht mehr auftreten zu lassen, haben mich in den vergangenen Wochen sehr beschäftigt. Vor allem, weil ich an mir selbst festgestellt habe, dass sie meinen nahezu physischen Genuss beim Betrachten seiner Tanzkunst absolut nicht schmälern. Dass ihm seine ukrainischen Mitbürger die Putin-Verehrung und die Annahme der russischen Staatsbürgerschaft übel nehmen, finde ich verständlich, und es würde mich erstaunen, wenn er in absehbarer Zeit in Kiew oder Odessa auftreten sollte. Was aber, frage ich mich, sollten ein westliches, in den Konflikt nicht involviertes Publikum die politischen Ansichten eines Tänzers kümmern? War es doch auch bislang so, dass ich mir Sergei Polunin nicht wegen etwaiger politischer Kommentare angeschaut habe, sondern wegen seiner Sprünge.
Ich gehöre zur zweifellos sehr überschaubaren Gruppe von Menschen, denen am klassischen Ballett etwas liegt, und sei es wider Willen. Irgendwie hat sich aus den doch eher mühevollen und von wenig Erfolg gekrönten Ballettlektionen meiner Kindheit etwas hinübergerettet in mein Erwachsenenleben, eine Faszination für diese künstlichste aller Kunstformen, die aller intellektuellen Vorbehalte zum Trotz nicht ganz auszumerzen ist. Ich habe mich zwar als Mutter bislang erfolgreich dagegen gewehrt, dass meine eigenen Töchter ihre von pinken Prinzessinnenfantasien inspirierten Ballettwünsche ausleben – zu sehr ist mir mittlerweile die unnatürliche Disziplinierung des Körpers und die Erziehung zur Zierlichkeit suspekt. Aber zugleich verfolge ich noch bis auf den heutigen Tag fast jederzeit mindestens aus dem Augenwinkel heraus die Geschehnisse an den großen Ballettkompagnien dieser Welt. Atemlos habe ich das russische Wunderpaar Natalia Osipova und Ivan Vasiliev die Bühnen der Welt stürmen sehen; und als Sergei Polunins spektakuläre Karriere Fahrt aufnahm, habe ich begeistert auf YouTube verwackelte Handymitschnitte konsumiert.
Nach seinen privaten Ansichten fragte ich damals nicht – und als er, spätestens ab 2012, dem Jahr in dem er sich Knall auf Fall vom Londoner Royal Ballet verabschiedete, begann, das Publikum davon in Kenntnis zu setzen und öffentlich sein unzufriedenes Bad-Boy-Image aufzubauen, schien mir das eine nicht wahnsinnig bemerkenswerte nachgeholte Teenagerrebellion gegen die Verhältnisse, die er sich natürlich in den entscheidenden Jahren der durchdisziplinierten Ausbildung nicht hatte leisten können. Dass eine Malaise an der Welt sich bei jemandem, der so jung so viel Erfolg hatte, etwas später umso deutlicher artikulierte, fand ich irgendwie menschlich.
Etwas an der engen Ballettwelt machte ihn damals sichtlich unglücklich, und das hat sich in den Jahren seither nicht wirklich gebessert. Polunin scheint etwas jenseits von Schwanensee und Co. zu suchen – Ruhm vielleicht, oder nur schon Anerkennung – und er eckt gern an. Seine immer zahlreicheren Tattoos sind ein Ärgernis und müssen auf der Bühne mühsam überschminkt werden, aber abgesehen davon erweckt er meist den Eindruck einer durchaus freundlichen, zarten und sensiblen (wenn auch streckenweise etwas verlorenen) Seele und seine Kollegen mögen ihn ganz offensichtlich und scheinen seine Provokationen im Allgemeinen nicht allzu ernst zu nehmen.
Müssen wir uns mit den Meinungen von Künstlern identifizieren?
Zweifellos macht Polunin sein jenseits der Bühne gepflegtes Image irgendwie interessant, und seiner Bekanntheit jenseits des engen Zirkels der Ballettliebhaber hat es bestimmt geholfen. Ebenso die vielen YouTube-Popsong-Videos, die er seit Take Me to Church gedreht hat, wenngleich keines annähernd an dessen Erfolg heranreichen konnte, sowie ein paar kleinere Filmrollen. Aber wenn er nicht Sex on a stickwäre, diese Kombination aus perfekter Grazie, Leichtigkeit und zugleich kraftvoller Maskulinität, die im klassischen Ballett extrem selten ist (mir fielen sonst noch Rudolf Nurejew, Mikhail Baryshnikov und Ivan Vasiliev ein), würde er niemanden interessieren.
Ich frage mich also bei all den jüngsten Aufregungen um ihn, seit wann wir uns eigentlich mit den Meinungen von Künstlern identifizieren müssen? Wann wir vergessen haben, dass wir ihre Kunst beurteilen – und genießen – sollten, und nicht ihr gesellschaftliches Engagement? Natürlich gibt es politisch engagierte Kunst, und sie ist wichtig, aber das klassische Ballett, diese artifiziellste und altmodischste aller Kunstformen, gehört nicht dazu. Warum auch hier dieser Angelina-Jolie-Komplex, diese Ausgeburt der Celebritykultur, die uns denken lässt, dass jeder Mensch, der es in einer nicht besonders intellektuellen Kunstgattung zu einigem Ruhm gebracht hat, dann als moralisch einwandfreie Vorbildgestalt am politischen Leben teilhaben muss? Menschen, die, wie es bei Tänzern oder auch klassischen Musikern der Fall ist, ihr ganzes Leben mit singulärer Entschlossenheit der Beherrschung einer Form gewidmet haben – warum sollte jemanden interessieren, was sie über Dinge denken, von denen sie nicht mehr verstehen als jeder beliebige Mensch an der nächsten Ecke? Mir jedenfalls ist es lieber, ich weiß nicht von jedem dieser Künstler seine genaue Meinung zu Frauen oder zu Homosexualität, ganz zu schweigen von diversen politischen Konflikten – und die meisten haben ja auch die Klugheit, sich nicht öffentlich zu heiklen Themen zu äußern.
Die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und politischer Weltanschauung ist im Übrigen in Deutschland – und weltweit – in epischer Breite am Fall Richard Wagner durchdekliniert worden, bei dem es ja, anders als bei Sergei Polunin (dessen zweifelhafte Tattoos zur Sache des Tanzes nichts hinzufügen oder wegnehmen), eine tatsächliche Verbindung von künstlerischem Output und Weltanschauung gab, der sein eigenes Tun selbst als Gesamtkunstwerk aus Dichtung, Musik und Arbeit am deutschen Geist verstand. Trotzdem gelingt es vielen seit jeher mühelos, seine Musik zu genießen und von seinem Antisemitismus und seinen deutschtümelnden Kitschlibretti abzusehen.
Nun ist andererseits die Wagner-Frage nicht abschließend geklärt, und es wird vermutlich immer diejenigen geben, die seine Musik nicht goutieren können oder wollen (oder denen sie, wie mir, einfach nicht gefällt). Aber das Argument, dass die Musik eine universelle Sprache ist, die für sich spricht und jenseits einer Weltanschauung Gültigkeit bewahrt, erfreut sich auch außerhalb des inneren Zirkels von Bayreuth allgemeiner Beliebtheit. Wagner wird umstritten bleiben, aber er wird auch weiterhin genauso leidenschaftlich geliebt wie unmöglich gefunden werden; sein Platz im Kanon der Musikgeschichte ist ihm nicht mehr zu nehmen.
Polunin hat es natürlich noch selbst in der Hand, seine weitere Karriere zu vergeigen. Aber die Tatsache, dass er einer der aufregendsten Tänzer seiner Generation ist, wird bleiben. Die für ihn als Tänzer entscheidende Sprache ist die Sprache des Tanzes, und sie ist genauso universell wie diejenige der Musik – sowie, zumindest meiner bescheidenen Auffassung nach, deutlich kurzweiliger. Ich habe noch kaum je ein Interview mit einem Tänzer gelesen oder gehört, in dem dieser nicht in der einen oder anderen Variante auf die Tatsache zu sprechen kam, dass Tanz für ihn ein Mittel ist, mit dem Körper Dinge auszudrücken, für die ihm andere Mittel des Ausdrucks fehlen. Den meisten Tänzern ist sogar schmerzhaft bewusst, dass Worte nicht ihre beste Disziplin sind.
Sind Sergei Polunins öffentliche Äußerungen etwas dümmlich, kaum überzeugend und massiv politisch unkorrekt? Ja, klar. Aber: why care? Er tritt in altmodischen Handlungsballetten aus dem 19. Jahrhundert auf – und in mild erotischen YouTube-Videos (und ich würde meinen, dass Neonazis Besseres zu tun haben, als sich diese anzuschauen und sich in ihren Ansichten bestätigt zu fühlen, aber da mag ich mich täuschen). Als Tänzer ist Polunin ein seltener Grad der Perfektion und der Expressivität eigen und solange er uns – Tattoos hin oder her – körperlich in seinen Bann ziehen kann: Darf uns da nicht alles andere einen magischen Abend (oder vier kurze YouTube-Minuten) lang auch mal egal sein? Catherine Newmark lebt in Berlin und arbeitet als Kulturjournalistin mit Schwerpunkt Film, Philosophie und Geisteswissenschaften. Sie ist Autorin und Redakteurin bei Deutschlandradio Kultur und beim "Philosophie Magazin" sowie Mitglied der Redaktion von "10 nach 8".
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