Fünf vor 8:00: Eine Art außenpolitisches Vermächtnis - Die Morgenkolumne heute von Theo Sommer

 
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FÜNF VOR 8:00
19.02.2019
 
 
 
   
 
Eine Art außenpolitisches Vermächtnis
 
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz mahnte die Kanzlerin die Staatengemeinschaft zu Zusammenarbeit. Es war ein Loblied auf den Multilateralismus – und fand Zustimmung.
VON THEO SOMMER
 
   
 
 
   
 
   

Ein Beifallssturm brach los, als die Bundeskanzlerin am vorigen Samstag ihre Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz beendet hatte. Die meisten der 500, 600 Teilnehmer erhoben sich, die stehende Ovation wollte minutenlang nicht abreißen. Es applaudierten nicht nur deutsche Politiker aller Parteien, sondern Minister, Militärs und Medienvertreter aus zahlreichen Nationen, darunter auch viele Abgeordnete und Senatoren der fünfzig Kopf starken amerikanischen Delegation; nicht allerdings die Präsidententochter Ivanka Trump. Es war eine Respektsbezeugung, die einer Huldigung gleichkam.
 
Desgleichen hatte die Kanzlerin schon länger nicht erlebt. Sie erschien aber auch wie ausgewechselt: gelöst, ja befreit. Sie sprach weithin ungewohnt leidenschaftlich, mitunter spritzig und witzig. Die Rede war nicht nur das Ereignis der Münchner Konferenz, an der sie womöglich zum letzten Mal als Bundeskanzlerin teilnahm. Was sie sagte, klang wie ihr außenpolitisches Vermächtnis.
 
Der harte Kern ihrer Botschaft lautete: Wir müssen in vernetzten Strukturen denken. Die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Weltordnung ist "unglaublich unter Druck" geraten. Wir dürfen sie jedoch nicht einfach zerschlagen; die Entwicklung fordert, dass wir sie reformieren. Um die großen Herausforderungen zu meistern, vor denen die Menschheit steht, dürfe man nicht denken, "jeder kann das Problem alleine am allerbesten lösen." Vielmehr müsse man sich "in die Schuhe des anderen versetzen, einmal über den eigenen Tellerrand schauen und sehen, ob man gemeinsame Win-win-Lösungen erreicht." Immer wieder unterstrich sie ihre Überzeugung, wenn man etwas mutig in die Hand nehme, könne man auch vernünftige Abmachungen finden.
 
Allerdings: Anders als Donald Trump, dessen Namen sie nicht einmal erwähnte, glaubt sie nicht an oktroyierte Lösungen, sondern an gemeinsam erarbeitete – eine Methode also, die heute Multilateralismus heißt. Beifällig zitierte sie einen Satz des US-Senators Lindsey Graham: "Multilateralismus mag kompliziert sein, aber er ist besser, als allein zu Hause zu sein." In ihren Ausführungen zu einer Vielzahl von Einzelproblemen – nur zu Europa sagte sie bemerkenswert wenig – zeigte sich die Bundeskanzlerin als pragmatische Realpolitikerin. Hier einige Beispiele:
 
Ein "Stabilitätsanker in stürmischen Zeiten"
 
Das Atlantische Bündnis. "Wir brauchen die Nato als Stabilitätsanker in stürmischen Zeiten", als Wertegemeinschaft auch. Die Bundeswehr leiste wichtige Beiträge, vor allem in Afghanistan und im Baltikum, außerhalb der Nato auch in Mali. Die Zwei-Prozent-Marke sieht die Kanzlerin indes bloß als Richtwert. "Seit 2014 haben wir die Verteidigungsausgaben von 1,18 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf 1,35 Prozent erhöht. Wir wollen 2024 bei 1,5 Prozent liegen. Vielen reicht das nicht, für uns ist das ein essenzieller Sprung." Oder sollten wir, deutet sie verschmitzt an, in eine Wirtschaftsrezession verfallen, um leichter auf die zwei Prozent zu kommen? Ihre Antwort: "Dass das dem Bündnis dient, glaube ich nicht."

Das Verhältnis zu Russland. Merkel nahm kein Blatt vor den Mund, was Moskaus völkerrechtswidriges Verhalten – "Annexion der Krim und anschließend der Angriff auf die Ostukraine" – betrifft. Aber sie dankte Nato-Generalsekretär Stoltenberg dafür, dass er auf der Nato-Russland-Grundakte beharrt und das Gespräch gesucht hat – auch in schwierigsten Zeiten. Doch sie ging noch weiter: "In ein paar Jahren kann es wieder ganz anders aussehen. Der Gesprächsfaden soll nicht abreißen." Im Zusammenhang mit dem umstrittenen Nord-Stream-2-Projekt erklärte sie, leicht spöttisch: "Ein russisches Gasmolekül bleibt ein russisches Gasmolekül – egal, ob es über die Ostsee kommt … Niemand will einseitig von Russland abhängig werden. Aber wenn wir schon im Kalten Krieg russisches Gas bekommen haben, dann weiß ich nicht, warum die Zeiten heute soviel schlechter sein sollen, dass wir nicht sagen: Russland bleibt ein Partner." Außerdem: "Wollen wir Russland nur noch in die Abhängigkeit oder in die Erdgasabnahme von China bringen? Ist das unser europäisches Interesse? Das finde ich nicht."
 
Wettbewerb kann gegenseitig schwächen
 
Das Verhältnis zu China. Dem chinesischen Argument, China als führende Wirtschaftsnation nehme nur wieder den Platz ein, den es bis vor 300 Jahren innehatte, setzt Merkel entgegen: "In den letzten 300 Jahren waren wir aber die Führenden; erst die Europäer, dann die USA und dann wir zusammen. Nun müssen wir mit der gegebenen Situation umgehen, damit daraus nicht ein uns gegenseitig schwächender Kampf wird." Sie pocht auf wirtschaftliche Reziprozität: gleiche Regeln für alle. Darüber müsse im Sinne der Partnerschaft geredet werden, auch weil so viele andere Probleme nur gemeinsam gelöst werden können. (Bisher haben derlei Appelle an die Chinesen nur bedingte Resonanz gefunden. Die Forderung, der Erweiterung des INF-Vertrages auf Asien zuzustimmen, haben Pekings Vertreter in München gleich rundheraus abgelehnt.)
 
Schließlich die Beziehungen zu den USA. Die Bundeskanzlerin freute sich, "so viele Vertreter der Vereinigten Staaten" zu begrüßen. Aber mit ihrer Kritik an Washingtons gegenwärtiger Politik hielt sie nicht zurück. Sie bekümmert die Kündigung des INF-Vertrages, der Europas Sicherheit betrifft – "und wir sitzen da und werden natürlich alles versuchen, um weitere Abrüstungsschritte möglich zu machen. Denn die Antwort kann nicht in blindem Aufrüsten liegen." Ebenso beunruhigt sie Amerikas undurchsichtige Afghanistan-Politik, über die "Fragen der Fortentwicklung" – Teilabzug, Vollabzug, weitere Unterstützung Kabuls – müsse man miteinander sprechen: "Ich möchte wirklich nicht erleben, dass wir eines Tages dastehen und einfach weggehen müssen, da wir dort sehr vernetzte Kapazitäten haben" – verständlich gesagt: völlig von den Amerikanern abhängen.
 
Und auch über die Kündigung des Nuklear-Abkommens mit dem Iran redete die Kanzlerin Tacheles: "Helfen wir unserem gemeinsamen Ziel, nämlich die schädlichen oder schwierigen Aktivitäten des Iran einzudämmen, indem wir das einzige noch bestehende Abkommen kündigen, oder helfen wir der Sache mehr, indem wir den kleinen Anker, den wir haben, halten, um dadurch vielleicht auch auf anderen Gebieten Druck machen zu können?" Zudem hätten wir nichts davon, wenn jeder gegenüber Russland seine eigenen Sanktionen entwickle. Und mit einem Lächeln auf den Lippen mokierte sie sich darüber, dass europäische Autos vom US-Handelsministerium als Bedrohung der nationalen Sicherheit eingestuft werden, sogar die in South Carolina gebauten BMWs.
 
Es war ein imposanter Ritt über die Konfliktfelder dieser Welt. Angela Merkel gestattete, ein rares Ereignis, einen tiefen Einblick in ihre Gedankenwelt. Im Grundsätzlichen werden ihre Erwägungen noch lange nach ihrer Amtszeit auf die deutsche Außenpolitik einwirken. Insofern ist der Begriff Vermächtnis nicht zu weit hergeholt. New York Times-Kolumnist Roger Cohen hat Recht: Ein Gutteil davon ist in der deutschen DNA festgeschrieben. Der Beifall für die Kanzlerin zeigte, dass dies durchaus Zustimmung findet in der Welt.

 


 
WEITERFÜHRENDE LINKS

Rede der Bundeskanzlerin Angela Merkel, 16. Februar 2019, München
NEW YORK TIMES Roger Cohen, „Munich or a requiem for the West“

 
   
 
   
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Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.