Man hatte sich viel Mühe gegeben inmitten des Wahnsinns. Es war der Valentinstag vor vier Jahren. Die Kellner hatten sich Engelsflügel umgeschnallt, priesen ihre Lose für die Liebestombola an, es glitzerte reichlich und aus den Lautsprechern dröhnten Popschnulzen. Wir saßen in einem Restaurant in einer Stadt nahe der Front in der Ostukraine, die damals Artemiwsk hieß und heute Bachmut heißt. Manchmal hörten wir von weit weg die dumpfen Einschläge. Ich wartete auf einen Anruf von einem ukrainischen General des JCCC.
Das JCCC, in Deutschland kaum bekannt, war ein gemeinsames Zentrum von russischen und ukrainischen Militärs für die Kontrolle und Koordination in der Ostukraine: Sie saßen damals in einem Sanatorium mit Goldvorhängen und sollten die Waffenruhe überwachen und der OSZE helfen – die einzige damals halbwegs funktionierende Zusammenarbeit zwischen Russen und Ukrainern.
Es waren nur noch ein paar Stunden, bis die Waffenruhe für die Ostukraine gelten sollte. Angela Merkel und François Hollande hatten mit Petro Poroschenko und Wladimir Putin das zweite Minsker Abkommen verhandelt, weil ein neues Massaker in der Stadt Debalzewe drohte, in der Tausende ukrainische Soldaten eingekesselt waren. Der General wollte um Mitternacht nach Debalzewe fahren, das heftig umkämpft und vom Rest der Welt so gut wie abgeschnitten war. Die russischen Truppen versuchten, die Stadt einzunehmen, bevor das Friedensabkommen in Kraft treten würde. Aber der General war zuversichtlich, dass ab Mitternacht die Kämpfe aufhören würden. Vielleicht könne ich mitkommen.
Aber der General rief nicht an. Er nahm auch den Hörer nicht ab. Als am nächsten Morgen viele deutsche Medien meldeten, dass die Waffenruhe gelte, wunderten wir Journalisten uns vor Ort. Nichts galt. Die Waffen ruhten nicht. Kurze Zeit später nahmen russische Truppen und Separatisten Debalzewe ein. Das Minsker Abkommen – es begann mit seinem massivsten Bruch.
Noch immer wird gekämpft
Das war vor vier Jahren. Seither wird weiter gestorben, mal mehr, mal weniger, jedenfalls ausreichend wenig, um verdrängen zu können, dass nicht weit weg von Warschau oder Berlin eine Gesellschaft vom Krieg zermürbt wird. Das Minsker Abkommen ist keine Lösung – es ist ein Instrument, das von Beginn an unzureichend zur Anwendung kam, weil es nicht im politischen Interesse liegt.
Noch immer wird gekämpft, noch immer werden schwere Waffen aus Russland über die Grenze gebracht, das hat eine Drohne der OSZE erst im Herbst dokumentiert. Interessiert das eigentlich noch irgendwen? Welche Redaktionen drucken noch Texte ab zu solchen Waffenlieferungen oder zum Scheitern der Waffenruhe?
Als vor fünf Jahren der Maidan-Aufstand in Kiew gewalttätig zu Ende ging, erwischte die Auseinandersetzung um die Ukraine die Mehrheit der deutschen Politiker und Medien ziemlich kalt, obwohl sich ein Konflikt schon früh abgezeichnet hatte. Ich war mir sicher: Aus den Fehlern in der europäischen Ostpolitik werden Lehren gezogen, der blinde Fleck, der die Ukraine für die meisten Redaktionen war, wird nun ausgeleuchtet.
Und tatsächlich: Medien, die vorher Ortsnamen in der Ukraine auf Russisch schrieben, schrieben sie nun auf Ukrainisch. In der ZEIT kamen Historiker wie Andreas Kappeler zu Wort, der einschlägige Fachbücher über Russland und die Ukraine geschrieben hat und beliebte Mythen mit Wissen abräumte. Den Unsinn von der "künstlichen Nation" zum Beispiel oder die Behauptung, "Kiew sei schon immer russisch" gewesen, wie es vor einigen Jahren auch in der ZEIT zu lesen war. Die Redaktionen schickten Journalistinnen und Journalisten los, in manchen Monaten waren die Hotels in Donezk ausgebucht, seitenlange Reportagen wurden gedruckt. Sprachen deutsche Politiker über eine deutsch-russische Annäherung, dann wurden sie daran erinnert, ihre Nachbarn einzubeziehen. Es tat sich etwas. Es musste sich ja auch etwas tun.
Am schwersten haben es die Menschen in den besetzten Gebieten
Heute gibt es noch immer kaum Korrespondenten in der Ukraine. Dafür ist das Geopolitisieren so kurz vor den Präsidentschaftswahlen wieder im Kommen: über die Ukraine, die Europa in einen Krieg hineinzuziehen versuche, beim Nord-Stream-2-Geschäft mit Russland störe oder für Unfrieden sorge bei der angeblich 1.000-jährigen Nachbarschaft zwischen Russland und Deutschland, wie Theo Sommer kürzlich auf ZEIT ONLINE schrieb – ganz so, als gebe es dazwischen kein Polen, die Ukraine und die baltischen Länder.
Doch die Flucht in die geopolitischen Planspiele erklärt nichts. Man könnte meinen, der Krieg der Ukraine sei zu beenden, wenn die alten Einflusssphären wieder gelten würden. Dieses Denken ist vertraut, aber gestrig. Und es fällt ungleich schwerer, wenn jene, über die man Urteile und Pläne fällt, ein Gesicht haben und Namen tragen. Wenn man von ihrem Kampf gegen korrupte Eliten hört oder vom Versuch, trotz aller Widerstände anständig zu bleiben. Wenn man ihren Wunsch, sich Europa anzunähern, nicht leichtfertig begräbt und ihre Verzweiflung ernst nimmt, wenn sie sich von diesem Europa verraten fühlen. Wenn man ihr Leben für so wertvoll hält wie ein Menschenleben in einem friedlichen europäischen Land – weil es eben nicht abstrakt ist, kein Figürchen auf einem Risiko-Spielbrett, das hin- und hergeschoben wird, so wie es die Einflusszone gerade verlangt. Weil man ihre Stimmen kennt, ihre Nöte und Hoffnungen.
Am schwersten tragen die Menschen in den besetzten Gebieten und an der Front an der Situation. Viele von ihnen sind pensioniert, viele müssen die Front überqueren, um ihre kümmerliche Rente abzuholen oder um Lebensmittel zu kaufen, weil die Regierung in Kiew die besetzten Gebiete wirtschaftlich isoliert hat und wenig für diese Menschen tut. Sie harren etliche Stunden an den Checkpoints aus, sie frieren im Winter in ihren Häusern, weil ihnen die Separatisten die versprochene Kohle nicht liefern. Sind sie bettlägrig, dann fehlt es an Menschen, um sie zu versorgen; Angehörige und Ärzte sind oft längst weg, wenn sie es sich leisten konnten. Die meisten humanitären Organisationen wurden von den Separatisten aus dem Staat gedrängt.
Diese Menschen haben sich an die Einschläge der Granaten und die Schüsse der Schnellfeuergewehre gewöhnt, als wohnten sie an einer viel befahrenen Straße: Lästig, aber man muss eben damit leben. Wenn man sich daran gewöhnt, dass Friedensabkommen keinen Frieden bringen, wenn die Deutungshoheit – wieder – den geopolitischen Großerklärern überlassen wird, dann kommen diese Menschen nicht vor. Aber sie sind da. Sie sind es, die den Preis zahlen. Seit Jahren schon.