Schluss mit der Bevormundung Abtreibung ist ein medizinischer Eingriff, der in Deutschland explizit durch das Strafgesetzbuch geregelt wird. Warum nehmen Frauen das immer noch hin? VON SABINE KRAY |
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| | Jährlich werden in Deutschland mehr als 100.000 Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen. Sind das alles Ausnahmesituationen? © Getty Images |
Bei der Abtreibung handelt es sich um eine der schwierigsten moralischen Fragestellungen, mit denen wir individuell, aber auch als Gesellschaft konfrontiert sind. So ist auf der einen Seite die Autonomie der Frau zu berücksichtigen, die eine möglicherweise ungewollte Schwangerschaft mit allen Konsequenzen und persönlichen Einschränkungen auszutragen hat, auf der anderen Seite soll das Recht des Ungeborenen auf Leben miteinbezogen werden.
Eine zentrale Frage besteht darin, welche Kriterien wir zur Definition von Leben heranziehen und ab welchem Zeitpunkt wir es als schützenswert betrachten. So wird in diesem Zusammenhang – sowohl in der Forschung als auch im Umgang mit Abtreibungen in der ärztlichen Praxis – der Fortschritt der Entwicklung des Ungeborenen als maßgeblich betrachtet. In Deutschland ist die rechtliche Handhabe im Zusammenhang mit Schwangerschaftsabbrüchen im Strafgesetzbuch geregelt. Im §218 wird festgeschrieben, dass es sich beim Schwangerschaftsabbruch um eine Straftat handelt. §218a widmet sich den Umständen, unter denen ein Abbruch straffrei sein kann. So haben Frauen in Deutschland bis zur zwölften Schwangerschaftswoche Zugang zu straffreien Abtreibungen, wenn sie durch die Wahrnehmung eines Beratungsgespräches in einer zugelassenen Beratungsstelle den entsprechenden Schein erworben und im Anschluss daran eine dreitägige Bedenkzeit eingehalten haben.
Die Anforderungen an dieses Beratungsgespräch werden in §219 definiert. Darüber hinaus sieht der Gesetzgeber nach §219a ein Werbeverbot für Abtreibungen vor. Viele Frauen in meinem Umfeld sind erstaunt darüber, wie akribisch nicht nur der Schwangerschaftsabbruch, sondern auch der soziale Umgang damit im Strafgesetzbuch geregelt ist. Nicht wenige waren bisher der Auffassung, der Abbruch sei in Deutschland legal, was nicht den Tatsachen entspricht. Er ist lediglich unter bestimmten Umständen straffrei.
Die Diskussion über gesetzliche Regelungen zum Thema Schwangerschaftsabbruch hat in den vergangenen Monaten erneut Fahrt aufgenommen. Bereits in seiner Zeit als Bundesjustizminister befand der heutige Bundesaußenminister Heiko Maas das "Werbeverbot" für Abtreibungen als überholt. Maas äußerte in diesem Zusammenhang im Jahr 2017 auch den folgenden Satz: "Die Zeiten, in denen der Staat das Kontrollrecht über die Körper seiner Bürger beansprucht, gehören zum Glück der Vergangenheit an." Das sind klare Worte, deren Konsequenz jedoch in mehr als lediglich in der ersatzlosen Streichung von §219a bestehen müsste.
Wir müssen über das große Ganze reden. Die Tatsachen sind: Abtreibung ist ein medizinischer Eingriff, der in Deutschland explizit durch das Strafgesetzbuch geregelt wird. Neben der Regelung der Fristen, die für einen straffreien Abbruch eingehalten werden müssen, können Frauen nur abtreiben, wenn sie die vorgesehene Beratung in Anspruch genommen haben. Und genau in diesem "wenn" liegt das Problem. Denn bei diesen Richtlinien handelt es sich um Geschlechtsbevormundung. Davon gab es im Bürgerlichen Gesetzbuch noch in den Sechziger- und Siebzigerjahren einige. So wurden Frauen erst im Jahr 1969 vollständig geschäftsfähig, erst seit dem Jahr 1977 dürfen sie allein über die Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses entscheiden.
Man unterstellte Frauen damals, sie seien zu derart gewichtigen Entscheidungen nicht in der Lage. Man fürchtete, sie könnten verantwortungslos oder fahrlässig handeln. Damals hieß es, man wolle Frauen beistehen bei solch schwierigen Lebensentscheidungen und sicherstellen, dass sie sich durch Arbeit und Haushalt nicht überlasteten. Man meinte es gut mit den Frauen. Wie heute, wenn man sie "zu ihrem eigenen Besten" erst einmal zum Beratungsgespräch schickt, bevor sie eine Entscheidung über den eigenen Körper fällen dürfen.
Ziel und Inhalt dieses Beratungsgespräches zum Schwangerschaftsabbruch werden vom Gesetzgeber folgendermaßen zusammengefasst: "Die Beratung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens. Sie hat sich von dem Bemühen leiten zu lassen, die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen und ihr Perspektiven für ein Leben mit dem Kind zu eröffnen; sie soll ihr helfen, eine verantwortliche und gewissenhafte Entscheidung zu treffen. Dabei muss der Frau bewusst sein, dass das Ungeborene in jedem Stadium der Schwangerschaft auch ihr gegenüber ein eigenes Recht auf Leben hat und dass deshalb nach der Rechtsordnung ein Schwangerschaftsabbruch nur in Ausnahmesituationen in Betracht kommen kann, wenn der Frau durch das Austragen des Kindes eine Belastung erwächst, die so schwer und außergewöhnlich ist, dass sie die zumutbare Opfergrenze übersteigt."
Kaum zu glauben, dass diese Worte geltendes Recht darstellen. Hilfe bei einer "verantwortlichen und gewissenhaften Entscheidung"? Wir alle treffen ständig Entscheidungen. Das dürfen wir, weil wir mündige Bürgerinnen sind. Und dabei schaut uns niemand auf die Finger. Ich darf wählen gehen, selbst wenn ich nicht einmal weiß, wofür die unterschiedlichen Parteien stehen. Ich darf Lobbyarbeit für die Tabak- oder Atomindustrie machen. Ja, zur Hölle: Ich darf sogar im Auftrag deutscher Firmen Waffen und anderes Kriegsgerät verkaufen. In keinem der genannten Szenarien nimmt mich vorher jemand beiseite, um mir die moralischen Implikationen meiner Entscheidung zu erörtern.
Abtreibungen aus dem Schatten holen
Und dann die Frage der Belastung. Wer bestimmt denn, welches Maß wem zumutbar ist? Worin besteht denn eine "gewöhnliche" Belastung? Die Autonomie über den eigenen Körper abzugeben, gehört in den Augen der Verfasser und Verfasserinnen offenbar zu den zumutbaren und gewöhnlichen Belastungen, selbst wenn eine Schwangerschaft ungewollt entstanden ist.
In Deutschland gibt es jährlich mehr als 100.000 Abbrüche. Sind das alles Ausnahmesituationen? Die Antwort lautet: Ja und Nein. Für die betroffenen Frauen sind sie das. Im ursprünglichen Wortsinn des Gesetzes sicherlich nicht. Der Beratungsschein darf nicht verweigert werden. Vorliegen muss er dennoch. Warum ist das so? Wieso fällt dieser offensichtliche Selbstbetrug niemandem auf, und warum nehmen wir als Gesellschaft das einfach so hin?
Offenbar möchten wir sichergestellt wissen, dass Frauen in der Praxis die Möglichkeit haben, abzutreiben. Gleichzeitig möchten wir aber schriftlich festgehalten wissen, dass es sich eigentlich um ein Verbrechen handelt, das lediglich straffrei gestellt ist. Ganz nebenbei entziehen wir Frauen temporär ihre Mündigkeit. Hat dieses Gesetz denn irgendeinen Sinn? Julia Bartley, Gynäkologin und Mitglied des Vorstandes der Pro Familia Berlin, sagt dazu am Telefon: "Die Frau muss ihre Entscheidung selbst treffen dürfen. Eine Schwangerschaftskonfliktberatung kann ausgesprochen hilfreich sein, sie sollte aber nicht gesetzlich vorgeschrieben, sondern freiwillig sein." Dann sagt sie noch einen Satz, der mich sehr berührt: "Bei einer Abtreibung gibt es ohnehin keine Gewinner."
Der bisherige Prozess erweist sich für die Frauen nicht selten als ähnlich traumatisch wie die Abtreibung an sich, denn oft haben sie mit Ärzten und anderen Beteiligten zu kämpfen, die ihnen sehr deutlich vermitteln, dass sie ihre Entscheidung ablehnen, ja, verurteilen. Hinzu kommt, dass es, je nach Region, zu unnötigen Zeitverzögerungen kommt, die nicht nur die seelische Belastung, sondern auch das Risiko für Komplikationen erhöhen.
Und wie sollte die Alternative aussehen? Julia Bartley befürwortet eine reine Fristenregelung, im Rahmen derer Abtreibungen bis zur zwölften Schwangerschaftswoche legal sind, ohne dass weitere Anforderungen an die Frauen gestellt werden.
Gleichzeitig betont sie, dass eine Entscheidung für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch niemals komplett "frei" sein könne, da sie, wie andere Lebensentscheidungen, an gesellschaftliche Normen und die persönliche Sozialisation gebunden sei. Mitunter sehen sich die Frauen in erheblicher Rechtfertigungsnot, denn die Gesellschaft vermittelt ihnen noch immer, dass sie mit dem Abbruch eine Sünde begehen. Viele Frauen haben sogar Hemmungen, das Gespräch mit Freunden und Familie zu suchen.
Selbstverständlich benötigen wir auch deshalb weiterhin Beratungsstellen für den Schwangerschaftskonflikt. Wir müssen Abtreibungen nicht nur entkriminalisieren, wir müssen sie aus dem Schatten holen, denn ein großer Teil des Schmerzes entsteht erst in diesem Schatten. Eine Bewegung in den sozialen Medien wie das amerikanische Hashtag #shoutyourabortion oder die Aktion Pro-Voice können ein Anfang sein. Doch vor allem im zwischenmenschlichen Gespräch sollten wir aufhören, reflexartig zu flüstern und betroffene Gesichter zu machen. Wir sollten erst mal zuhören, denn die Geschichten von Frauen, die abtreiben, und die Gefühle, die sie dabei haben, sind so unterschiedlich wie die Frauen selbst.
Bei gut 100.000 Abtreibungen jährlich in Deutschland kennen wir alle sicherlich eine Frau, die einen Abbruch hinter sich hat. Selbst in der gynäkologischen Praxis ist er trotzdem bis heute ein Tabuthema. Es wäre gut für alle Beteiligten, wenn Frauen endlich ohne Scham und unter Berücksichtigung aller Gefühle, inklusive der Erleichterung, die laut wissenschaftlichen Studien fast alle empfinden, über ihre Erfahrungen reden könnten. Sabine Kray wurde 1984 in Göttingen geboren. Heute lebt sie in Berlin, wo sie als Autorin und Übersetzerin arbeitet und sich als Mentorin für junge Mädchen bei der Bürgerstiftung Neukölln engagiert. Ihr Debüt "Diamanten Eddie" ist im Frühjahr 2014 bei der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".
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