10 nach 8: Esther Boldt über Demokratie

 
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15.02.2019
 
 
 
 
10 nach 8


Ausweitung der Spielzone
 
Wir sprechen ständig davon, die Demokratie stärken zu müssen. Doch unseren Kindern gestehen wir nur wenig Mitwirkung zu. Warum nur?
VON ESTHER BOLDT

Die Dinge mal ganz anders sehen: Warum werden Kinder nicht einbezogen in die Gestaltung von Kitas, Schulen oder Spielplätzen? © Cavan Images/plainpicture
 
Die Dinge mal ganz anders sehen: Warum werden Kinder nicht einbezogen in die Gestaltung von Kitas, Schulen oder Spielplätzen? © Cavan Images/plainpicture
 
 

Fünf Kinder stehen an einer Wand und streichen sie hellblau. Das Jüngste ist anderthalb, das Älteste neun Jahre alt. Farbe tropft auf Kleidung und Malerfolie, Fußtapser bedecken den Boden, und ich überrede meinen inneren Kontrollfreak zur Zurückhaltung. Denn die Kinder streichen – gemeinsam mit den Eltern – den Gruppenraum ihrer Schule.

Ihre Schule ist eine freie Alternativschule in Frankfurt am Main, zu deren Selbstverständnis es gehört, dass Kinder sehr vieles mitgestalten. Sei es bei gemeinsamen Renovierungsaktionen oder regelmäßigen Gruppen- und Hausversammlungen. Bei Gesprächen über die Regeln des Zusammenlebens oder dringenden Anliegen von Kindern und Erwachsenen. Beim Lernen in der Holzwerkstatt, im Kunstatelier, am Gruppentisch, Tablet oder im Garten. Anstelle fester Unterrichtsstunden gibt es hier Lernangebote, die Kinder wahrnehmen können, aber nicht müssen. Denn der Schule liegt eine einfache Idee zugrunde: dass Kinder auch dann lernen, wenn ihr Umfeld nicht durch Druck, Noten oder Wettbewerb geprägt ist. Dass es durch das Möglichmachen unterschiedlichster Erfahrungen besser gelingt. Und dass Eigenverantwortung, wechselseitiges Verständnis und Kompromissfähigkeit dabei entscheidend sind.

Ich finde das Modell dieser Mikrogesellschaft ziemlich spannend und wiege mich in der Hoffnung, dass meinen Kindern dort die frustrierenden Lernerfahrungen erspart bleiben, die ich selbst bereits in der ersten Klasse einer ganz normalen Regelschule sammeln dufte. Damals waren Lernfortschritte nur im vorgesehenen Tempo erwünscht, es gab spürbaren Leistungsdruck und für vieles Strafen. Schon weil sich viele Schulen bis heute nicht entsprechend verändert haben, wünsche ich mir, dass meine Kinder in ihrer Einrichtung – die man sich leider erst mal leisten können muss – eigenverantwortlich lernen. Auch dass sie praktische Erfahrung in Sachen Partizipation mitnehmen.

Denn warum sollten Kinder nicht mehr Verantwortung für die eigenen Interessen und Bedürfnisse übernehmen? Bis zu einem bestimmten Grad für das, was sie lernen, aber auch wie und wann sie es lernen. Schließlich ist Wissen heute auf vielen verschiedenen Wegen verfügbar und vermittelbar. Bislang jedoch stehen noch immer die fixen Lehrpläne und Zeitrhythmen vieler Schulen im Vordergrund und nicht der diskontinuierliche, mal intensive, mal sprunghafte Takt des kindlichen Lernens. Auch soziales Lernen steht an vielen Schulen noch nicht gerade weit oben auf der Agenda. Aber warum eigentlich werden nicht Beziehungen, Gruppendynamiken und Konflikte zum Anlass des Lernens, der Gestaltung und Mitbestimmung genommen?

In skandinavischen Ländern sind demokratisch ausgerichtete Schulen längst Teil der Alltagskultur. Das hat Wolfgang Edelstein, ehemaliger Direktor des Max Planck Instituts für Bildungsforschung, bereits vor zwölf Jahren gesagt. Deutschland dagegen sei an dieser Stelle nicht besonders weit gewesen.

Noch heute vermisse ich hier Orte, an denen Kinder mitreden können und gehört werden, eklatant. Zurzeit habe ich eher den Eindruck, dass sie in in Kitas, Schulen und Hortbetreuung wegorganisiert und in ihrer Freizeit auf Spiel- und Bolzplätze umgeleitet werden – und insgesamt gesellschaftlich nicht viel zu sagen haben. Dabei haben die mehr als 11 Millionen Kinder im Alter von null bis 14 Jahren, die in Deutschland leben, vor dem Gesetz durchaus umfassende Rechte – theoretisch zumindest sichern das die UN-Kinderrechtskonventionen.

Demokratie nicht nur erklärbärhaft vortragen

Doch Alltagsstrukturen, Stadt- oder Gesellschaftsarchitektur sind kaum auf Kinderbedürfnisse zugeschnitten. Es beginnt bei den immer enger werdenden, städtischen wie ländlichen Freiräumen. Bei schwindenden Brachen und Hinterhöfen, die als Erkundungs- und Bewegungsraum dienen könnten. Und es setzt sich fort in jenen Räumen, die explizit für Kinder vorgesehen sind, jedoch nicht von ihnen mitgestaltet werden. Warum also werden sie nicht einbezogen in die Gestaltung von Kitas, Schulen und Spielplätzen? Warum lädt das Grünflächenamt nicht Bergeweise Äste und Zweige an Spielplätzen ab, für freies Spiel und zum Hüttenbau für Kinder? Ein wunderbares Beispiel ist ein Abenteuerspielplatz in Frankfurt, ein wildes Gelände mit alten Bäumen, Nischen und Verstecken, dessen Spieltürme und -häuser von Kindern selbst gezimmert werden – und der jeden DIN-genormten Sandplatz eines Parks in den Schatten stellt. All dies wären kleine, bescheidene Anfänge in Sachen Selbst- und Mitbestimmung. Und doch weisen sie in eine pragmatische Richtung. Denn es ist ein eklatanter Unterschied, ob Demokratie erklärbärhaft vorgetragen oder ob sie gelebt und erfahren wird. Wenn zurzeit – aus gutem Grund – wieder kräftig über Demokratie diskutiert wird, wenn demokratische Staatsformen offen angegriffen und unterlaufen werden, dann müssen wir dort beginnen, wo wir präventiv ansetzen können: bei unseren Kindern.

Denn wie sollen aus ihnen mündige Bürger*innen mit einem gesunden Vertrauen in demokratische Strukturen werden, wenn sie Mitbestimmung und Selbstwirksamkeit kaum erleben können? Eine 16-jährige schwedische Schülerin lebt gerade auf eindrucksvolle Weise vor, was jugendliche Selbstbestimmtheit und Engagement alles bewirken können. Kaum verwunderlich, erntet sie dafür auch hierzulande Kritik, wie sich in jüngsten Diskussionen um Kohleausstieg und aggressiven Twitter-Kommentaren gegen ihre Aktionen zeigt. Und wenn nun auch deutsche Schüler*innen von ihren demokratischen Rechten Gebrauch machen und, inspiriert von Greta Thunberg, auf die Straße gehen, entbrennt erst mal eine Debatte darüber, ob nun der staatliche Erziehungsauftrag schwerer wiegt oder die Versammlungsfreiheit.

Dabei ist es doch eigentlich schon peinlich genug, dass Kinder demonstrieren müssen, weil wir mit unserem ressourcenintensiven Lebensstil ihre Zukunft aufs Spiel setzen. Denn das Problem verursachen ja wir, nicht sie. Was also hält uns davon ab, unseren Kindern mehr Mitbestimmung zu ermöglichen? Mir scheint, dass sich hier – mehr als in manchen anderen Ländern – Geschichte und Gegenwart unglücklich kreuzen: Einerseits klebt das Erbe der schwarzen Pädagogik immer noch an uns, in Form der Schauerszenarien aus den Büchern Johanna Haarers etwa, die während der NS-Zeit höchst populäre Erziehungsratgeber schrieb. Und auch der überkommen Glaube an Disziplin und Pflichterfüllung sitzt tief, die ziemlich deutsche Angst, Kinder zu "verwöhnen". Wir haben es schlicht nicht gelernt, Dinge mit ihnen auf Augenhöhe zu verhandeln. Und so bietet sich jetzt die Chance für uns Erwachsene, auch etwas zu lernen: neue Aushandlungsprozesse und eine neue Diskussionskultur.

Andererseits bringt der heute alles durchdringende Kapitalismus Formen des Drucks und der Kontrolle hervor, unter denen Erwachsene leiden und die sie an ihre Kinder weitergeben – schon in der Hoffnung, dass diese später ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Was aber wissen wir heute schon davon, was Kinder zukünftig tatsächlich brauchen werden? Bildungsforscher wie Ken Robinson haben darauf hingewiesen, dass es noch gar nicht klar ist, wie die Arbeitsmärkte der Zukunft aussehen und welche Kompetenzen sie wirklich benötigen werden.

Wäre es also nicht wichtiger, sich weniger aufs Curriculum zu verlassen und mehr darauf zu achten, dass unsere Kinder gesunde, zufriedene Menschen sind, die sich als gestaltender, elementarer Teil einer Gemeinschaft fühlen dürfen? Denn was die Zukunft ganz sicher braucht, sind selbstbewusste Menschen, die ihre eigenen Talente und Fähigkeiten kennenlernen durften, die empathisch sind und in der Lage, ihre Bedürfnisse und Vorstellungen zu artikulieren. Die andere Menschen wertschätzen und Differenzen aushandeln können.

Esther Boldt arbeitet als Autorin, Tanz- und Theaterkritikerin für Medien wie "Theater heute", "tanz Zeitschrift" und den Hessischen Rundfunk und als Redakteurin bei "Nachtkritik". Sie ist Jurorin bei den Autorentagen am Deutschen Theater und Gastautorin von "10nach8".

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