In den USA gibt es Unternehmer, die Menschen demnächst in Röhren durch die Gegend schießen wollen, die erschwingliche Elektroautos bauen und die den Mars vermutlich besiedeln werden, bevor die Bundeswehr ihr Segelschulschiff wieder seetüchtig gemacht hat. Niemand würde also bestreiten, dass Innovationen oft aus den USA kommen, aber doch ist nicht alles, was aus den USA kommt gleich eine Innovation. Gerade zum Beispiel wird in den Vereinigten Staaten über das neue Buch von Francis Fukuyama diskutiert, der berühmt wurde durch seine These vom Ende der Geschichte, die schon vor zwanzig Jahren vor allem durch ihre Schlichtheit bestach und heute als rundheraus falsifiziert gelten darf.
Nun hat Fukuyama also ein Buch geschrieben, das Identity heißt und bei dem bereits im Titel ein guter Teil dessen steckt, was dem Leser schließlich als Erkenntnis angeboten wird: Die Identität(spolitk) ist, wer hätte es gedacht, ein großes Problem, ebenso wie "die Linke" welche, natürlich, "die Arbeiterklasse verraten" habe, wegen ihrem postmodernen Kulturalismus und überhaupt rede niemand mehr von universalistischen Werten und ökonomischen Konflikten, sondern eben nur noch über die Interessen unterschiedlicher Minderheiten, entlang derer sich eine Gesellschaft auseinander dividiere und so weiter. Man fühlt sich wie in einem dieser Meetings, in dem zwar schon alles gesagt wurde, aber noch nicht von allen.
Denn natürlich ist das alles nicht unbekannt, sondern, spätestens seitdem man sich "in Zeiten von Trump" befindet, schon in allen möglichen Varianten ausgebreitet und kritisiert worden. Das freilich hält Fukuyama, zuletzt auch in Interviews mit deutschsprachigen Zeitungen, nicht davon ab, all das Alte als neu zu verkaufen und sich selbst als kühnen Denker mit "unbequemen" Einsichten.
Interessant ist allerdings, dass man gerade, wo man es sich mit den zum x-ten Mal aufgewärmten Diagnosen so richtig behaglich eingerichtet hatte, ausgerechnet in Deutschland etwas erleben, das es nach den Maßstäben der Fukuyamas eigentlich gar nicht mehr geben dürfte: Eine Debatte um die Zukunft des Sozialstaats, in der es, ganz klassisch, um Verteilung geht, um Reichtum und Armut und in der sich exakt entlang dieser Frage Parteien und Wähler scheiden, gar so etwas wie politische Lager entstehen.
Und um die Überraschung perfekt zu machen, war es ausgerechnet die SPD, die die Debatte anstieß. Noch vor ein paar Monaten galt es als ehernes Gesetz, dass es die SPD schon irgendwie schafft, selbst für jene Probleme verantwortlich zu sein, die eigentlich andere verursacht haben. Die geplatzten Jamaika-Sondierungen wurden ebenso rasch zum SPD-Problem wie der desorientierte Verfassungsschutzpräsident. Plötzlich aber agiert gerade diese SPD mit einem diskurspolitischen Geschick, das man in der Partei eigentlich nicht mehr vermutet hatte. Erst formulierte sie mit der Grundrente zunächst eine Idee, die ihr in der Bevölkerung große Zustimmung und den Koalitionspartner sogleich in Bedrängnis brachte. Und am vergangenen Wochenende präsentierte die Parteiführung schließlich ihre Ideen für einen erneuerten Sozialstaat, die zwar inhaltlich nicht gerade revolutionär geraten waren, aber doch einige überfällige Korrekturen am Hartz-System formulierte, das die Partei nun, so die offizielle Sprachregelung, "hinter sich" lassen wolle.
Von Olaf Scholz bis Kevin Kühnert waren die Genossen geschlossen und die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft projizierte "Sozialpopulismus" ans Willy-Brandt-Haus, was für die SPD sogleich signalisierte, dass sie für die wirtschaftsliberalen Interessenverbände immerhin noch ein ernstzunehmender Gegner ist. In der Parteizentrale war man so gut gelaunt wie lange nicht mehr.
Eher erschöpft als ermächtigt
Dass aus den Vorschlägen aber eine Debatte wurde, liegt auch an der Union, die nach Friedrich Merz’ blitzartigem Verschwinden davon überzeugt zu sein scheint, dass es ihr derzeit vor allem an "Wirtschaftskompetenz" mangele. Und weil in der Union gerade diejenigen als kompetent in Wirtschaftsfragen gelten, die so reden wie die Wirtschaft, reagierte sie prompt mit den passenden Reflexen. Ein "gruppentherapeutischer Linksruck" wurde bei der SPD ausgemacht, das Ende der sozialen Marktwirtschaft sowieso und der Fraktionschef Ralph Brinkhaus, in dem manche in der Partei bereits einen ordnungspolitischen Mini-Merz erkennen, griff gleich tief in die Kiste der Sabine-Christiansen-Vokabeln: Die Bundesrepublik sei auf dem Weg zum "Nanny-Staat", der seine Bürger entmündige und in dem fiskalpolitische Hasardeure die Zukunft der Kinder verspielten.
In der SPD wiederum ist man dagegen der Ansicht, dass nach Jahren der schneidigen Appelle zu "Eigenverantwortung" und "Flexibilität" ein guter Teil der Bürger eher erschöpft als ermächtigt dasteht. Und dass ihnen da ein sorgender Staat durchaus lieber ist als einer, der mehr fordert als fördert. Der Nanny-Staat ist für sie nicht Drohung, sondern Versprechen. Ganz beflügelt von ihrem neuen Mut erklärten die Genossen schließlich prompt, dass für die Finanzierung ihrer Konzepte durchaus auch die Reichen zahlen könnten, was die Union wiederum in tiefe Sorge versetzte, um den Standort Deutschland im Allgemeinen und dessen Leistungsträger im Besonderen.
Nach Jahren des wohlfahrtsstaatlichen Gleichklangs von Union und SPD schälen sich nun allmählich wieder Konturen heraus. Ganz offensichtlich haben die beiden in ökonomischen Fragen sehr unterschiedliche Ziele und wollen diese wiederum mit unterschiedlichen Mitteln erreichen. Dass sie dafür über kurz oder lang aus der Koalition hinausmüssen, die längst nicht mehr groß ist, wissen beide.
Natürlich ist es nicht ausgeschlossen, dass die SPD der gerade gewonnene Mut wieder verlässt, oder dass sich die Union jene Konzepte einverleibt, die sie gerade noch leidenschaftlich bekämpft hat. Doch zeigen diese Wochen, dass das Feld der Verteilung und der Sozialstaatlichkeit, also die ganz und gar materielle Dimension der politischen Konflikte, durchaus noch dazu taugt, Debatten zu polarisieren und Unterschiede sichtbar zu machen.
Um das zu erkennen, hätte Francis Fukuyama übrigens nicht einmal bis nach Deutschland blicken müssen. In den USA wächst unter den Demokraten seit einiger Zeit die Gruppe derer, die gerade in Verteilungskämpfen, in so konventionellen Themen wie Steuern und Rente, die Mittel sehen, mit denen Donald Trump zu schlagen ist. Ihre bekannteste Vertreterin, die Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez, schlug neulich einen Spitzensteuersatz von 70 Prozent vor. Eine Mehrheit der Amerikaner sprach sich in Umfragen dafür aus, einflussreiche Ökonomen unterstützen die Idee und schon wurde in den Talkshows und den Kommentarspalten der Zeitungen über Armut und Ungleichheit debattiert.
Den ökonomischen Konflikt wiederzubeleben ist also durchaus möglich. Und in Deutschland reicht dafür in diesen Tagen schon eine sanfte Abkehr von Hartz IV.