Ich bin ein Lurker Im Internet sollen alle mitmachen. Aber die Mehrheit der User guckt bloß zu, wenn die anderen liken und haten. Ich lungere in Foren herum und schäme mich nicht dafür. VON SABINE HORST |
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| | Mitlesen, aber nicht kommentieren: Man könnte Lurking als Schaufensterkrankheit bezeichnen. © Jiri Wagner/unsplash.com |
Alle reden über diese Menschen, die sich im Internet auskotzen, die verächtliche Kommentare und Videos posten. Ich will keinesfalls bestreiten, dass das ein Problem ist; schon die Onlineforen der großen Zeitungen in den letzten Wochen zu beobachten – kein Spaß. Aber ich würde gern mal über die anderen sprechen: die Unauffälligen, die Schweiger, die Herumlungerer und Eckensteher. Leute wie mich. Ich habe Accounts bei Facebook, LinkedIn, Twitter, Tumblr, Instagram und ein paar Fanportalen. Aber ich poste nichts; ich schaue immer nur vorbei, um zu gucken, was die anderen so treiben. Zur Internetkultur, die ja nicht nur aus autoritären Hasspredigern besteht, trage ich nichts Substanzielles bei. Es muss jetzt raus: Ich bin ein Lurker.
To lurk heißt: lauern, umherschleichen, sich versteckt halten. Horrorschriftsteller benutzen die Wortfamilie oft, wie in The Lurker at the Threshold oder The Lurking Fear. Seit das anfing mit der Webkultur, den Newsgroups, Foren und Mailinglisten, beschreibt der Begriff User, die lesen, zuhören und beobachten, aber kein Feedback geben, keinen Input liefern.
Obwohl weitaus die meisten Menschen mit Internetanschluss zu dieser Gruppe gehören – je nachdem, welche Bauernregel man zugrunde legt, wären das zwischen 80 und 99 Prozent –, hat der Lurker ein mieses Image: Er gilt im schlimmeren Fall als parasitär und voyeuristisch, im besseren als sozial gehemmt und bedürftig. Das Urban Dictionary, so eine Art Mini-Wikipedia für Digital- und Geekslang, liefert für den Gebrauch des Begriffs vor allem Beispiele, die den Lurker in die Nähe des Stalkers rücken, wie dieser fiktive Dialog: "Mongo: That kid Tonto is a lurker. – Thor: He is creepy. – Tonto: I am right here." In der kultigen Science-Fiction-Serie um die Raumstation Babylon 5 waren Lurker Leute, die im Untergrund lebten, und im Gamerjargon sind es Spieler, die nicht im Team agieren, sondern aus dem Hinterhalt kommen.
Ich muss sagen, da fühle ich mich schon ein bisschen diskriminiert. Es gibt ja Gründe, sich in Netzdiskussionen nicht einzumischen. Kann sein, dass man einfach zu schüchtern ist, sich in Gruppen mitzuteilen, deren Mitglieder man nicht zu Gesicht bekommt und deren Reaktionen schwer abzuschätzen sind; vielleicht fühlt man sich auch im Englischen, in dem sich die meisten Debatten abspielen, nicht so firm. Kann sein, dass einem all die Anmeldeprozeduren, die Profilpflege und die regelmäßige Gesprächsbeobachtung, die es für einigermaßen sinnhafte Einlassungen braucht, zu aufwendig sind. Schließlich erfordert es Organisationstalent, die eigene Webidentität zu verwalten. Ich habe inzwischen so viele Pseudonyme kreiert, dass ich nicht mehr weiß, wer ich wo bin. Und es fällt mir nach all den Jahren immer noch schwer, zwischen dem Online-Me und dem Real-Me zu unterscheiden – ich kann als Vulcanlover nichts posten, was Sabine nicht meint.
Manche argumentieren, dass das reine Browsen eine völlig legitime Art ist, sich des Internets zu bedienen, eine Verkehrsform, die dem Medium einprogrammiert ist. Die notorisch besorgten angelsächsischen Kulturwissenschaftler haben allerdings aus dem Lurker einen regelrechten Pflegefall gemacht; sie wollen etwa herausgefunden haben, dass das Herumlungern in sozialen Netzwerken Gefühle der Isolation auslöst.
Ist ja auch ein bisschen dumm: Da hat man eine partizipatorische Kultur im Internet entdeckt, Räume, in denen Privatleute sich entfalten, kreativ werden, eine eigene Politik entwickeln … Und dann wollen da welche nicht partizipieren, verdammt noch mal! Das Lurken ist in diesen Studien meist etwas, das es zu überwinden gilt, ungefähr so, wie Schwule angehalten werden, sich zu outen – dafür hat irgendwer die Wendung coming out of lurkdom (von fandom) erfunden. Weniger dramatisch klingt das Neoverb to de-lurk, ent-lurken.
Freunde können mich jederzeit anrufen
Was meinen ohnehin engen Facebook-Zirkel betrifft, stehe ich zu meinem Lurkdom; ich glaube, meine Bekannten halten es aus, wenn ich da als tote Ente rumtreibe, die können mich jederzeit anrufen. Auch im Segment Information und Lebensberatung bin ich stoisch – kochen kann ich nicht, mein Reiseverhalten ist uninteressant und was Gesundheitsthemen angeht, habe ich mit der Hotline meiner Krankenkasse ganz gute Erfahrungen gemacht.
Anders verhält es sich mit den Fancommunities, den Stellen im Netz, wo Fans ihre – und meine – Lieblingsserien oder -filme zu eigenen Geschichten, Bildern, Videos und Comics umarbeiten: Neben den Giganten YouTube, Tumblr und Wattpad sind das Fanfiction- und Fanartportale wie das Archive of Our Own, Fanfiction.net oder Deviant Art und natürlich die vielen, auf einzelne Themen spezialisierten Newsgroups und Blogs. Seit ich in den Neunzigern entdeckt habe, was auf der Enterprise abgehen kann, wenn sie von Fans gekapert wird, verbringe ich sehr viel Zeit in diesem Paralleluniversum. Der Stoff, den die Fans produzierten, war damals für mich der Grund, mich ins Internet einzuarbeiten: Hier war etwas, das ich wirklich gebrauchen und anderswo nicht bekommen konnte.
Fanarbeiten sind zutiefst persönlich; sie spiegeln, was Menschen in ihrem Alltag erfahren und erarbeiten; es sind Experimente, Vorstöße ins Ungewisse, vor allem dann, wenn Frauen über Beziehungen und Sex schreiben. Zugleich ist Fanfiction ein soziales Ereignis. Die Autorinnen und – seltener – Autoren, die ihre Geschichten meist portionsweise als works in progress veröffentlichen, lassen sich auf Zurufe und Ideen aus dem Publikum ein, tauschen sich aus, lassen sich lektorieren. Viel Zeit und Leidenschaft fließen in diese Arbeiten, manche Fanstorys dehnen sich auf Romanformat. Und oft werden in den Anmerkungen der Verfasser Lebensgeschichten sichtbar: Sorry, ich war lange krank, habe meinen Job verloren … So dass man sich Sorgen macht, wenn ein Epos, das sechs Monate gelaufen ist, auf freier Strecke abbricht.
Dass ihre Storys mal verkauft werden, wie das Twilight-Fanfic, das der Bestsellerserie Fifty Shades of Grey zugrunde liegt – damit rechnet kaum eine Autorin da draußen. Die einzige Gratifikation, die es für Fanworks gibt, ist Zuspruch aus der Community – mindestens Kudos, kleine Aufschreie der Begeisterung, ähnlich den Likes, besser Kommentare. Und viele Autorinnen beantworten jeden einzelnen davon.
Wir Lurker sind auch in dieser Szene keine Seltenheit. Aber es treibt mich, und ich bin geneigt zu sagen uns, um: der Wunsch nach Zugehörigkeit, das Bedürfnis, teilzunehmen. Es macht mich nicht einsamer, zu beobachten, wie die aktiven Fans arbeiten und miteinander umgehen. Aber ich habe das Gefühl, ich sollte etwas zurückgeben. Tatsächlich ist Fanfiction so ziemlich das einzige, das mich aus meinem Web-Stupor holen und zu Kommentaren hinreißen kann. Etwa nach Nächten, in denen ich über einer besonders emotionalen Story kein Auge zubekommen habe.
Zuzusehen, wie andere sich im Netz austoben, ist nicht nur für einen Lurker zeit- und nervenschonend. Fanfiction jedoch ist ein wenig wie besonders liebevoll gestaltete Fanpost an den angebeteten Star. Man kann und will sie nicht unbeantwortet im digitalen Waschkorb stapeln. Denn der Lurker mag ein wenig impulsarm sein. Herzlos jedoch ist er nicht.
Sabine Horst lebt in Frankfurt, hat als Kulturjournalistin unter anderem für die "Frankfurter Rundschau" gearbeitet und ist seit 2002 Redakteurin bei "epd Film". Nebenbei schreibt sie für DIE ZEIT, "chrismon.de" oder den "Tagesspiegel" über Kino, Fernsehen und alltagskulturelle Themen. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8". Sie wollen der Diskussion unter dem Text folgen? Hier geht es zum Kommentarbereich. |
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